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Osteuropa
Rumänien: Zehntausende protestieren gegen Regierung

Eine Tragödie entsetzt Rumänien und versetzt die Bürger in Wut, berichtet Reimar Wagner
Rumänien

Frauen demonstrieren in Bukarest nach dem Tod eines 15-jährigen Mädchens.

© picture alliance / AP Photo

Zehntausende Menschen sind in Bukarest am Sonntag auf die Straße gegangen und demonstrierten gegen die Regierung. Die Rumänen sind unzufrieden mit ihrer Regierung, der sie Korruption und schlechte Verwaltung vorwerfen. Eine Analyse von Raimar Wagner.

Der gewaltsame Sexualmord an einem 15-jährigen Mädchen in Rumänien hat die Wut der Rumänen an der eigenen Polizei und Staatsmacht überkochen lassen. Der unprofessionelle Einsatz des Notrufdienstes, die Schlamperei der Polizei, ein fragwürdiger Beschluss des Staatsanwaltes und die mangelnde technische Ausrüstung trugen wohl zum Tod des Mädchens bei. Rumäniens Wut auf die eigene, noch immer oftmals korrupte Polizei und Staatsmacht wächst zunehmend und hat noch viel tiefere Wurzeln.

Viele „Schuldige“

Viele Rumänen fragen sich, wie es im Zeitalter, in dem Taxi-Apps Handys innerhalb von Sekunden verorten können, überhaupt möglich war, den Handyanruf des Mädchens nicht genau nachverfolgen zu können. Die Details des Falles kommen allmählich zum Vorschein und bestimmen nach wie vor die Schlagzeilen. Die Probleme sind systemisch und oft auch hausgemacht: die Notrufnummern sind unterbesetzt und technisch kaum ausgerüstet. Die Software wurde von einer Firma geliefert, deren Inhaber wegen Korruption verurteilt wurde und nach Serbien geflüchtet ist.

Die beste Überwachungs- und Ortungstechnik besitzt eigentlich der rumänische Geheimdienst. Doch nachdem viele Beweise gegen korrupte Politiker mit Hilfe dieser Technik von der Staatsanwaltschaft ermittelt wurden, erließ die Regierungskoalition per Verfassungsbeschluss ein Verbot der Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten und Staatsanwaltschaft. Eine Nach- und Ausrüstung der zuständigen Stellen gab es nicht. Selbst nachdem das Haus des Entführers geortet wurde, wartete man auf Anordnung eines Staatsanwaltes weitere drei Stunden bis zum Einsatz der Polizei. Grund dafür war eine weitere Gesetzesänderung, die nächtliche Hausdurchsuchungen untersagt.

Indes ergab ein DNA-Test, dass es sich bei der in einem Ofen im Hof gefundenen Asche um Alexandras Überreste handelt. Der Täter gestand nicht nur diesen, sondern einen weiteren vor Monaten verübten Mord. Weitere zwanzig Mädchen gelten in der Region als vermisst. Unklar ist noch, ob es sich um einen Serienkiller handelt. Viele Bürger fragen sich, warum die Polizei den Täter bislang nicht habe ausfindig machen können. Der Mann hatte Alexandra als Anhalterin in seinen Wagen genommen und dann entführt. Das Mädchen befand sich auf dem Weg von ihrem Wohnort zur Schule in der Stadt. Wie sich erst jetzt herausstellte, gibt es aufgrund einer chronischen Unterfinanzierung des Bildungssystems vielerorts keine Schulbusse, so dass Schulkinder oft per Anhalter in die besseren Stadtschulen pendeln.

Wen schützt die Polizei?

Bekannt wurde außerdem, dass über die Hälfte der Führungspositionen in der rumänischen Polizei politisch nach Kriterien der Vetternwirtschaft besetzt wurden. Die publik gemachten Aufzeichnungen zu dem Fall zeugen nicht allein von der Inkompetenz der örtlichen Polizisten, sondern auch von deren Interessen- und Empathielosigkeit während des Telefonats mit dem Opfer. Als der Vater das Verschwinden seiner Tochter 24 Stunden vor ihrem ersten Hilferuf meldete, wurde er mit dem Verweis abgefertigt, dass sie wahrscheinlich durchgebrannt sei. In einem anderen Fall von Menschenhandel stehen derzeit Polizisten aus der Region unter Anklage, die mit den Kriminellen unter einer Decke gesteckt haben sollen. Die Verflechtung von Polizei, Lokalpolitikern und organisiertem Verbrechen kommt über die mediale Aufmerksamkeit allmählich zum Vorschein. Und die Wut der Bürger wächst weiter, nachdem Videoaufnahmen aus einer anderen Stadt ein blutüberströmtes 14-jähriges Mädchen zeigen und belegen, dass ein Eingreifen der benachbarten Polizeistreife nur nach energischer Aufforderung durch aufgebrachte Bürger erfolgt. 

In den sozialen Medien zirkulieren vermehrt Erfahrungsberichte über tatenlose Polizisten, aber auch Bekenntnisse von sexuell belästigten Frauen, die dann von Polizisten abfällig behandelt wurden. Die Polizei schütze nicht die Bürger, sondern korrupte Politiker und Verbrecher, hieß es am vergangenen Wochenende bei einer Protestaktion vor dem Innenministerium. Tausende Rumänen riefen „Ihr Mörder“ gerade auf dem Platz, wo vor dreißig Jahren der kommunistische Diktator Nicolae Ceausescu die Flucht vor einer wütenden Menschenmenge ergreifen musste. Unvergessen bleibt auch der brutale Einsatz der Polizei gegen friedlichen Demonstranten am 10. August 2018, als mit Knüppeln und Tränengas gegen Regierungskritiker vorgegangen wurde. Bislang wurde auch in diesem Fall von Polizeigewalt niemand zur Verantwortung gezogen. 

Reaktionen aus der Politik

Präsident Klaus Johannis verurteilte den Fall aufs Schärfste und forderte von der Regierungskoalition, die Änderungen an den Justizgesetzen rückgängig zu machen. Er brachte den Fall vor den Obersten Verteidigungsrat und forderte von Premierministerin Viorica Dăncilă schnelle und konkrete Maßnahmen. Diese entließ Teile der Polizeiführung und den erst seit einigen Tagen im Amt eingesetzten Innenminister. Zuvor war Innenministerin Carmen Dan zurückgetreten. Sie wird für den brutalen Einsatz der Polizei vor einem Jahr direkt verantwortlich gemacht. Auch Bildungsministerin Ecaterina Andronescu musste wegen einer zynischen Aussage ihren Hut nehmen: Auf die Frage, warum es keine Schulbusse in der Region gäbe, entgegnete sie, dass sie zuhause gelernt habe, nicht zu fremden Männern ins Auto zu steigen.

Dăncilă kündigte einen Kampf gegen die Kriminalität an. Zu sehr habe man sich in den vergangenen Jahren auf den Kampf gegen Korruption fokussiert, hieß es. Blanker Hohn für die Protestbewegung, da im vergangen Jahr über ein für korrupte Politiker maßgeschneidertes Amnestiegesetz ebenfalls 19.000 Häftlinge vorzeitig auf freiem Fuß kamen. Seitens der liberalen „Union zur Rettung Rumäniens“ (USR) forderte deren Vorsitzender und Präsidentschaftskandidat Dan Barna die Einsetzung eines Krisenstabs, der die Zustände und Probleme beim Notruf und der Polizei untersuchen und beheben soll.

Auch der neue Präsident des Europaparlaments David Sassoli twitterte: „Der vergebliche Anruf der 15-jährigen Alexandra Măceșanu bei den Rettungsdiensten hat ganz Europa betrübt und erschüttert. Eine wirksamere Politik gegen Frauenmord und Gewalt gegenüber Frauen muss im Mittelpunkt all unserer politischen und institutionellen Bemühungen stehen.“

Für die regierenden Sozialdemokraten scheint der Fall politisch verheerende Folgen zu haben. Die jüngste Sonntagsfrage zeigt, dass die Wählergunst auf ein neues historisches Tief von nur 19 Prozent gefallen ist. Die neue liberal-konservative Wahlallianz „USR-PLUS“ führt die Umfragen nun mit 27,4 Prozent an. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist der Kampf gegen Korruption und die alte politische Kleptokratenklasse.

 

Raimar Wagner ist designierter Projektberater für Rumänien und die Republik Moldau