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Public History
Rudolf Virchow – liberaler Netzwerker, Forscher und Politiker

„Freiheit ist nicht die Willkür, beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln." (Rudolf Virchow)
Rudolf Virchow

Rudolf Virchow war Impulsgeber und Innovationstreiber; ein halbes Jahrhundert stand er im Zentrum von Wissen und Kultur, praktischer Politik und Grundlagenforschung in Deutschland. Mit unerschöpflicher Neugier und unbändigem Forscherdrang hat der am 13. Oktober 1821 im pommerschen Schivelbein geborene Politiker, Wissenschaftler und Universalgelehrte auf vielen Feldern den Fortschritt vorangetrieben, in der Pathologie und Anthropologie, der Sozialmedizin und Gesundheitsforschung, in den politischen Bürgerrechten und in der Modernisierung der Städte und ihrer Infrastruktur.

Leben und Wirken

Da sich der Sohn eines Landwirts und Kämmerers ein reguläres Studium zunächst nicht leisten konnte, ließ er sich beim Militär zum Chirurgen ausbilden. Anschließend arbeitete er in der Berliner Charité und holte dort 1846 das medizinische Staatsexamen nach. Als 26-jähriger Privatdozent wurde er mit einer Expertise zur 1847 ausgebrochenen Hungertyphus-Epidemie in Oberschlesien beauftragt. Statt mit einem medizinischen Gutachten kam Virchow, den die sozialen und hygienischen Verhältnisse in den Dörfern empörten, mit einer „Anklageschrift, einem Pamphlet gegen die Bürokratie und Latifundienbesitzer“ (Theodor Heuss) zurück. Die Schrift wurde zum Geburtsdokument der Sozialmedizin und machte Virchow über die Grenzen seiner Disziplin hinaus bekannt.Ein Jahr später beteiligte er sich in der Revolution 1848 aktiv am Barrikadenbau, konnte aber nicht viel ausrichten, weil „ich nur ein Pistol bekommen hatte“, wie er durchaus bedauernd beschrieb. Den-noch verlor er im preußischen Berlin seine Stellung, wurde aber an die Universität ins bayerische Würzburg berufen. Hier entwickelte er die Grundlagen seiner bahnbrechenden Cellularpathologie, mit der er sein naturwissenschaftlich ausgerichtetes Weltbild auf die Funktionsweise des menschlichen Körpers übertrug. 1856 rief der preußische Staat den inzwischen weithin anerkannten Gelehrten wieder zurück nach Berlin – und musste dafür kräftig investieren: Virchow bekam nicht nur Lehrstuhl und etliches Personal, sondern ein eigens für ihn gegründetes Institut, fast unbegrenzte Forschungsgelder und Forschungsfreiheit.

Als in den 1860er-Jahren Tausende von Menschen in den grassierenden Epidemien an Cholera, Pocken und Typhus verstarben, ermittelte Virchow deren Ursachen und forderte die umfassende Sanierung der Großstädte. Zusammen mit dem Ingenieur und linksliberalen Politiker James Hobrecht entwickelte Virchow für Berlin ein Radialsystem unterirdischer Kanäle zur Entsorgung der Abwässer. Hinzu kamen Erholungsflächen, Volksbäder und Volksparks, Gesundheitsämter und die Schulkinderpflege – ein ganzheitliches Programm zur Verbesserung der sozialen und hygienischen Verhältnisse. Diese Investitionen in die Zukunft, für die Virchow als Vorsitzender des Haushaltsausschusses und der Gesundheitsdeputation in der Berliner Stadtverordnetenversammlung kämpfte, waren gewaltig: Allein die Kosten der Kanalisation beliefen sich in den 1870er-Jahren auf ein Drittel des Gesamthaushalts der Kommune, teilweise finanziert mit einer neuen Steuer für Hausbesitzer. Eine Anstrengung, die von großem Erfolg gekrönt war: Die Säuglingssterblichkeit ging ebenso zurück wie Krankheitsepidemien und das früher im Wortsinne „anrüchige“ Berlin wurde, so Virchow, „eine reine, eine gesunde, vielleicht sogar eine schöne Stadt“. Wichtiger noch: Als eine der modernsten Metropolen wurde Berlin um 1900 zum Vorbild für ähnliche Modernisierungen der Infrastruktur und Technologie-Entwicklung in anderen Großstädten.

Über vierzig Jahre wirkte Virchow neben seinen umfassenden medizinischen Aufgaben und Forschungen in politischen Ämtern: Von 1859 bis zum Lebensende wurde er in den Berliner Wahlkreisen des sogenannten „Fortschrittsrings“ als Stadtverordneter gewählt, teilweise erhielt der populäre, unbeugsame Liberale über 90 Prozent der Stimmen. Seit 1862 vertrat er die von ihm mitbegründete älteste deutsche Partei, die Fortschrittspartei im preußischen Abgeordnetenhaus, ab 1880 im Reichstag auch die Freisinnigen. Die Parlamentstätigkeit nahm er mit Engagement und großem Selbstbewusstsein wahr – in Sitzungen und Ausschüssen sowie im Vorstand seiner Partei, getragen von der Zuversicht, Politik auf der Basis vernunftorientierter Grundsätze mitzugestalten.

Reichstag, Deutsche Freisinnige Gruppe
© Bundesarchiv_Bild_147-0935,_Reichstag,_Deutsche_Freisinnige_Gruppe

Der Dissens über den Charakter von Politik mag eine Ursache für Virchows Konflikt mit Otto von Bismarck gewesen sein: Der Streit nahm seinen Ausgangspunkt im Preußischen Verfassungskonflikt um das von Bismarck missachtete Budgetrecht des Parlaments und eskalierte bis zur Duellforderung des späteren Reichskanzlers an Virchow. Dieser lehnte ab, nicht nur, weil er dieses Mittel zur Wiederherstellung der Ehre für „unzeitgemäß“ hielt, sondern weil es ein Konflikt zwischen Parlament und Exekutive sei, nicht ein persönlicher Streit. Nur in einem waren sich die beiden Kontrahenten politisch einig: In der Ablehnung der von der katholischen Kirche behaupteten Eigenständigkeit im Kaiserreich; demgegenüber beharrte auch Virchow im „Kulturkampf“ auf der strikten Trennung von Staat und Kirche. Virchow verteidigte unablässig die Rechte des Parlaments, lehnte Kolonial- und Rüstungspolitik ebenso ab wie antisemitische Tendenzen oder die preußische Germanisierungspolitik gegenüber Polen: Würden „polnische Mitbürger vertrieben“, so Virchow, „ist und bleibt das Gewalt.“

Häufig wird Virchow als Grenzgänge zwischen Politik und Wissenschaft bezeichnet. Für ihn besaßen allerdings die politische Tätigkeit und seine wissenschaftliche Forschung einen gemeinsamen Wesenskern: Die zelluläre Struktur des Menschen und ihre Wechselwirkung miteinander entspreche auch dem staatlichen Organismus, der Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft: „Was das Individuum im Grossen, das und fast noch mehr als das ist die Zelle im Kleinen.“

Bequem war Virchow nie, Harmonie, nicht seine Stärke und Konflikten – ob politisch oder wissenschaftlich, – ging er nicht aus dem Weg. Dies galt auch für manche zu seiner Zeit verbreiteten Forschungsansätze, etwa der akribischen Vermessung des menschlichen Körpers und ihrer rassischen Implikation: Letzterer widersprach Virchow energisch: Er erkenne in seinen Untersuchungen keine spezifische „germanische Rasse“; Unterschiede zwischen den Kulturen seien durch soziale Ursachen und Lebensumstände bedingt.

Virchows Leben kannte kein Innehalten – mehr als zweitausend wissenschaftliche Artikel und politische Beiträge, unzählige Reden und Vorträge in Parlamenten, vor Bildungsvereinen, auf Tagungen und in Volkshochschulen, Forschungen bis in die letzten Tage zeugen von dieser beeindruckenden Energie. Unterwegs zu einem dieser Vorträge eilend, sprang er aus der noch fahrenden Straßenbahn ab, verletzte sich und starb wenige Monate später am 5. September 1902. Die Erinnerung an ihn blieb vielfältig und nicht auf die wissenschaftliche Welt beschränkt: Schon unmittelbar nach seinem Tod schien die Marke „Virchow“ magische Kräfte zu entfalten, vom „Virchow-Sprudelwasser“ im Taunus bis zum „Virchow-Schokoladentaler“ mit vorgeblich heilsamer Wirkung.

Wenn Berlin um 1900 als modern und als Mekka der Wissenschaft galt, trugen Persönlichkeiten wie Virchow wesentlichen Anteil daran. Der sozial handelnde, unerschütterlich auf die Vernunft in Wissenschaft und Politik vertrauende Rudolf Virchow war ein „engagierter, kämpferischer und überzeugungstreuer Liberaler“ (Gerhart Baum), ein Leitbild eines sozialen Liberalismus.