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Israel
Israels erneute Schicksalswahl – Noch einmal Netanyahu?

Tag der Wahlen zur 21. Knesset

Am Tag der Wahlen zur 21. Knesset ist die Entscheidung der 6,3 Mio. Wahlberechtigten völlig offen. Das liegt an einem Kopf-an-Kopf-Rennen der Parteien der beiden Benjamins (Netanyahu und Gantz), den Kandidaten für das Amt des Premierministers, sowie an der Sperrklausel von 3,25 %, an der bis zu fünf der zur Wahl stehenden 15 Parteien und Listen der beiden Lager zu scheitern und damit als dringend benötigte Koalitionspartner auszufallen drohen. Ein Drittel der Wähler gibt sich noch unentschieden und es ist unklar, wie sich die drohende Anklage gegen Ministerpräsident Netanyahu wegen Korruption auf Vertrauen und Wahlabsicht traditioneller Wähler des Likud auswirkt.

Israels tief gespaltene Gesellschaft steht einmal mehr vor einer Richtungswahl: Gleiten Israels politisches System und Kultur in das Muster einer majoritären Demokratie ab, in welcher die Gewaltenteilung und die Normenkontrollbefugnis des Obersten Gerichtshofs gegenüber dem Parlament aufgeweicht werden ? Wird Israel tatsächlich Siedlungsgebiete der Westbank annektieren, wie Parteien der Rechten und nun auch Premier Netanyahu das fordern, was ein Bruch des Völkerrechtes wäre und die Option einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts durch eine Zwei-Staaten-Lösung undenkbar werden ließe? Wird die Integration der 1,8 Mio. Araber/Palästinenser, die in Israel leben, weitergehen? Wird die säkulare Bevölkerung weiterhin unter religiös definierten Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu leiden haben oder wird der seit Staatsgründung geltende religiös-säkulare Status Quo liberalisiert?      

Benjamin (Bibi) Netanyahu oder Benjamin (Benny) Gantz ?

Seine stärkste politische Rolle spielt Israels Staatspräsident bei der Entscheidung, welchem Politiker er – nach Gesprächen mit allen Parteien - den Auftrag zur Bildung einer Regierungskoalition überträgt. In den Wahlen wichtig ist deshalb, wer die stärkste Fraktion führt, entscheidend ist, wer die besseren Möglichkeiten zur Koalitionsbildung hat. Während Benny Gantz mit seinem neugegründeten Parteienbündnis ‚Blau-Weiß‘ (Kachol-Lavan) in Umfragen hauchdünn vor der traditionsreichen Likud Partei führt, hat Benjamin Netanyahu die weit besseren Möglichkeiten zur Bildung einer Regierungskoalition, die sich auf eine Mehrheit der Abgeordneten der Knesset stützen kann.

Gantz und Netanyahu liegen politisch nicht weit auseinander, weshalb die Enttäuschung unter friedensbewegten Beobachtern in Westeuropa vorprogrammiert ist, sollte Gantz Ministerpräsident werden. Dieser bekennt sich in der Friedensfrage nicht zu einer Zwei-Staaten-Lösung, er verspricht, das jüdisch-arabisch gespaltene Jerusalem nicht zu teilen und als vereinte Hauptstadt ebenso zu erhalten wie die wesentlichen Siedlungsblöcke. Das sagt so auch Netanyahu. Aber Gantz ist ein anderer Typus als Netanyahu, er formuliert verbindlich, wo Netanyahu polarisiert und spaltet. Als ehemaliger Generalstabschef der Israelischen Armee hat er den für die Wahlaussichten entscheidenden Sicherheitsnimbus, Gantz betont die Einheit der Bevölkerung Israels, deren Pluralismus er respektiert: „Unity not Uniformity“ ist seine gegen Netanyahu gerichtete Formel. Gantz könnte Netanyahus erfolgreiche Außen- und Sicherheitspolitik fortsetzen, sie durch einen konzilianteren Ton gegenüber Israels Minderheiten im Inneren und gegenüber arabischen Nachbarstaaten und Israels Verbündeten ergänzen und damit politische und strategische Spielräume öffnen.

Netanyahu ist ein weit erfolgreicherer Ministerpräsident als das in Europa gesehen wird. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass die Wähler des Likud sich trotz einer drohenden Anklage durch die Justiz noch nicht von Netanyahu abwenden und ihn erneut an die Spitze der Regierung tragen werden. Israel hat unter Netanyahus bisherigen vier Regierungen einen enormen Wirtschaftsaufschwung genommen, Netanyahu ist ein vorsichtiger Politiker, er hat keinen Krieg geführt und Israel sicher durch die Krisen in seiner Nachbarschaft geführt. Das Land ist im Inneren sicher, dies dank einer klugen Diplomatie gegenüber arabischen Staaten und auch dank einer pragmatischen Sicherheitskooperation mit der Palästinensischen Nationalbehörde. Israels konservative Mitte sieht keinen Grund, sich gegen Netanyahu zu stellen und es ist nicht einmal sicher, dass eine Mehrheit ihn im Falle einer tatsächlichen Anklage fallen sehen möchte. Die im Oslo-Friedensprozess und dem zweiten Aufstand (Intifada) der Palästinenser ernüchterten Israelis schätzen die Gefahren für ihre Sicherheit unter einer linken Regierung höher ein als unter einer rechten Regierung Netanyahu. Auch die internationale Politik begünstigt nicht den Wunsch nach einem Richtungswechsel: Die Beziehungen zu den Akteuren Trump und Putin, dazu nach Indien und Ländern wie neuerdings Brasilien sind exzellent, warum sollte Israels Mitte sich von Netanyahu abwenden?

Natürlich ist da auch der Politiker Netanyahu, der eine Politik des ‚Nicht-Friedens‘ verfolgt, der sich zu einer ethno-nationalistischen Politik hinbewegt und ein Wahlbündnis rechts-nationalistischer Parteien unter Einschluss einer Partei orchestrierte, welche die Palästinenser aussiedeln will; Netanyahu hat die liberalen Juden der USA düpiert, denen er ein Areal an der Klagemauer für das gemeinsame Beten von Männern und Frauen verweigerte, er hofiert Europas autokratische Führer. Und man muss befürchten, dass Netanyahu sich um fast jeden politischen Preis aus der Gefahr einer Anklage befreien möchte. Das könnte in die Bildung einer rein rechts-nationalistischen Regierung führen, in welcher Netanyahu den linken Rand verkörperte und seine Zustimmung zur Annexion von Teilen der Westbank politisch tauschen würde für ein Gesetz seiner Koalitionäre zur Immunität des Ministerpräsidenten. Einen solchen Schutz würde Netnyahu nur von einer reinen Rechtskoalition erhalten.

Szenarien für Wahlausgang und Regierungsbildung  

Die Knesset umfasst 120 Sitze. Die arabischen Parteien Hadash und Balad kommen für eine Regierungsbeteiligung nicht in Frage. Folgende Konstellationen sind demnach für das Erreichen der Mehrheit von 61 Sitzen denkbar:

Gantz I - Mitte-Links Koalition

Eine von Benny Gantz geführte Koalition würde die Parteien Blau-Weiß, Labour und Meretz sicher einschließen, was nach der letzten Umfrage aber zu nicht mehr als 42 der benötigten 61 Sitze reichte. Selbst wenn dem rechten Lager zuzuordnende Parteien für eine Koalition gewonnen würden (Kulanu, Israel Unser Heim, Gesher und eine religiöse Partei), so wäre das eine hoch instabile Regierung ohne lange Überlebenschancen.

Gantz II - Regierung der Nationalen Einheit unter Gantz

Eine Koalition von Blau-Weiß und Likud (mit zusammen bis zu 55 Sitzen) unter der Führung von Benny Gantz wäre nur ohne Netanyahu denkbar und würde voraussetzen, dass es im Likud eine Revolution gegen ihren Vorsitzenden gäbe. Dies ist selbst mit Blick auf die zu erwartende Anklageerhebung gegen Netanyahu zum jetzigen Zeitpunkt nur sehr schwer vorstellbar.

Netanyahu I - Regierung der Nationalen Einheit unter Netanyahu

Eine Koalition von Likud und Blau-Weiß (mit zusammen bis zu 55 Sitzen) unter der Führung von Netanyahu würde voraussetzen, dass Benny Gantz von seiner klar bekundeten Position abrückt, nicht unter Netanyahu in eine Koalition mit dem Likud einzutreten. Ein Wandel dieser Gantz’schen Position wäre dessen Wählern nicht zu vermitteln und ist unwahrscheinlich.

Netanyahu II – Mitte-Rechts Koalition

Das wäre die Fortsetzung von Netanyahus aktueller Regierungskoalition und seine bevorzugte Option, eine Koalition rechter Parteien ohne die extremste Rechte. Schlüsselakteur ist dabei die Zentrumspartei ‚Kulanu‘, die derzeit als einziger Koalitionär gemäßigter ist als Netanyahu. ‚Kulanu‘ ist der Schlüssel zu einer Regierung, die nicht allen Forderungen der extremen Rechten folgen würde. Ob der Wahlausgang eine Neuauflage dieser Konstellation erlaubt, ist ungewiss, weil ‚Kulanu‘ es nicht in die nächste Knesset schaffen mag.

Netanyahu III – Koalition der Rechten

Wenn Benny Gantz bei seiner Haltung bleibt, nicht in eine Regierung Netanyahu einzutreten, ‚Kulanu‘ an der Sperrklausel scheitert und die Sitzverteilung damit nicht für eine Mitte-Rechts Koalition reicht, dann hat Netanyahu nur die Option einer Regierung der extremen Rechten. Die ihm politisch nicht entspricht, die er aber deshalb eingehen wird, um auf ein Gesetz zu seiner Immunität gegen ein Strafverfahren hoffen zu können. Im rechts-nationalistischen Spektrum haben sich mit der ‚Union der rechten Parteien‘ und ‚Zehut‘ (Identität) Parteien etabliert, die nicht nur für die Annexion von Teilen oder der gesamten Westbank eintreten, sondern auch für die –freiwillige wie erzwungene- Umsiedlung von Palästinensern in arabische Staaten. Kommt es zu einer solchen Koalition, geraten Fundamente des Staates Israel ins Wanken und wird Netanyahu seine „Politik des Nichtfriedens“ fortsetzen. Eine solche Koalition und ihre Politik des Bruchs internationalen Rechts würden weitere Verwerfungen mit der Europäischen Union heraufbeschwören.

Fazit und Ausblick

Was wir Europäer uns im Interesse der Friedensfähigkeit der Akteure im Nahostkonflikt wünschen müssen, ist eine Regierung der Nationalen Einheit, entweder unter Benny Gantz oder unter einem Likud-Politiker in der Nachfolge von Benjamin Netanyahu, in dessen Kabinett Blau-Weiß eintreten würde. Ein solchermaßen stabiler Block würde den Einfluss der religiösen und rechts-nationalistischen Parteien eindämmen, die aufgrund der Spaltung von Israels Politik in den letzten Regierungen einen überproportional großen Einfluss hatten. Der Ministerpräsident einer Regierung, die beide politische Lager einschließt, hätte das Mandat, die Stärke und den politischen  Spielraum für eine sicherheitsorientierte Friedenspolitik, zu welcher Amtsinhaber Netanyahu nicht willens oder unter den gegebenen Kräfteverhältnissen nicht in der Lage war.

 

Ulrich Wacker ist Büroleiter von Israel und den Palästinensischen Gebieten der Friedrich-Naumann-Stiftung mit Sitz in Jerusalem.