EN

Jahrestag

Friedrich Naumann: Leitfigur des Liberalismus

Mitglied der Freisinnigen

Friedrich Naumanns große Bedeutung für den Liberalismus war nicht unbedingt vorgezeichnet. Anders als viele liberale Vorkämpfer des 19. Jahrhunderts war er nach Herkunft und Bildungsgang kein geborener Liberaler. Zwar hatte er schon in seiner nationalsozialen Zeit die Schlüsselstellung des Liberalismus erkannt, wenn man das Kaiserreich politisch reformieren wollte. Aber gerade vom wirtschaftlich geprägten Freisinn eines Eugen Richter trennte ihn zunächst ebenso viel wie von den recht konservativen Positionen, die die Nationalliberalen einnahmen. Je mehr sich aber zeigte, dass der Aufbau einer neuen „Arbeiterbewegung“, die national orientiert war und deutsche Großmachtambitionen unterstützte, schlichtweg unmöglich war, desto wichtiger wurde der Liberalismus für Naumann.

Eine Rolle spielte aber auch, dass die Unterstützung für ihn und die Nationalsozialen bei den Wahlen eben nicht aus der Arbeiterschaft, sondern aus jenen Teilen des Bürgertums kam, die zwar grundständig liberal orientiert, aber zugleich enttäuscht von den liberalen „Altparteien“ waren. 1903 zog Naumann daraus die Konsequenzen und vereinte den Nationalsozialen Verein mit der linksliberalen „Freisinnigen Vereinigung“ von Theodor Barth, in der es unter den liberalen Organisationen die größte Aufgeschlossenheit für Naumanns Reformvorstellungen für die Verfassung des Kaiserreiches und die Positionierung des Liberalismus gab.

This is an excerpt from our publication, which you can download in our shop.

Vordenker des Liberalismus

Das Jahrzehnt vor 1914 war geprägt von zahlreichen organisatorischen und konzeptionellen Neuansätzen, bei denen Naumann eine Doppelstrategie verfolgte: Einerseits versuchte er, den Liberalismus programmatisch auf die Belange einer entwickelten Industriegesellschaft neu auszurichten, ohne dabei die traditionellen Kernelemente preiszugeben, wollte zudem aber auch den weltpolitischen Rahmenbedingungen Rechnung tragen: So hielt er nach wie vor daran fest, dass Deutschland aufgrund seiner Struktur eine Weltmacht sei und deshalb sowohl eine große Flotte als auch Kolonien brauche auch deshalb, um im Inneren Reformpolitik betreiben zu können.

Allerdings wurde er im Vorfeld des Weltkrieges vorsichtiger, was die Außenpolitik anging, und öffnete sich der Vorstellung eines Ausgleichs mit Großbritannien, dem eigentlichen Rivalen der deutschen „Weltpolitik“. Zugleich war er im Unterschied zu vielen anderen „Wilhelminern“ seit jeher frankophil und orientierte seine Liberalismus-Konzeption durchaus an westlichen Vorbildern. In dieser Zeit legte er eine Vielzahl von Schriften und Artikeln vor, die sich mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Liberalismus befassten, und wurde so zum unangefochtenen Vordenker der liberalen Sache.

Politischer Strategie

Um die liberale Position im Parteienwettstreit zu verbessern, hielt er organisatorische Verbesserungen für unumgänglich, vor allem galt es, die innerliberalen Spaltungen zu überwinden. Hier wurden bis 1914 durch die Gründung einer linksliberalen Gesamtpartei unter dem Namen „Fortschrittliche Volkspartei“ sowie starken Verbesserungen im Verhältnis zu den Nationalliberalen wichtige Fortschritte erzielt. Diese Fortschritte waren für Naumann aber nur eine Etappe, denn er dachte zugleich strategisch: Wenn man wirklich Reformpolitik betreiben und das Kaiserreich in eine parlamentarische Monarchie nach britischem Vorbild umwandeln wollte, brauchte man dafür Verbündete, da die Möglichkeit, eigene Mehrheiten im Reichstag zu gewinnen, anders als in den 1870er Jahren nicht mehr bestand. Nach Naumanns Analyse kamen dafür nur die Sozialdemokraten infrage, nicht aber die konservativen Parteien und auch nicht der eher konservative Politische Katholizismus. Der Linksblock von „Bassermann bis Bebel“, also von den Nationalliberalen bis zur gemäßigten Sozialdemokratie, wurde für Naumann im Vorkriegsjahrzehnt zum großen innenpolitischen Ziel.

Dieses war nun alles andere als unumstritten, weder bei den Nationalliberalen noch bei den Sozialdemokraten und auch nicht im Linksliberalismus. Zu sehr wirkten die erbitterten Auseinandersetzungen vor allem um städtische Wahlkreise nach, und zu sehr waren bislang die gesellschaftspolitischen Vorstellungen auseinandergegangen. Naumann hatte erkannt, dass man mit solchen Rivalitäten aber nur den Konservativen in die Hände spielte und forderte Kompromissbereitschaft auf allen Seiten: sozialpolitische Aufgeschlossenheit auf liberaler Seite und Unterstützung für Flotte und Kolonien seitens der Sozialdemokratie. „Weltpolitik“ nach außen und Reformpolitik im Inneren sollten eine enge Symbiose eingehen und so parlamentarische Reform-Mehrheiten gewinnen.

Wie sehr Naumann zugleich auch strategisch denken konnte, wurde auch daran deutlich, dass er für die Erreichung von Etappenzielen notfalls zu Umwegen bereit war, wie einem zeitweisen Zusammengehen mit den Konservativen nach der Wahl von 1907, weil man so der liberalen „Gesamtpartei“ näherkam – und er nebenbei selbst erstmals in den Reichstag einzog, übrigens als erster Nichtschwabe in einem württembergischen Wahlkreis. Naumanns Netzwerk und Charisma zeigten hier erstmals ihre Wirksamkeit. Nicht unerwartet scheiterte das konservativ-liberale Zusammengehen nach kurzer Zeit, brachte aber in den Augen Naumanns mit der Einigung der Linksliberalen und dem erwähnten Reichsvereinsgesetz doch einige Fortschritte. Die Reichstagswahl von 1912 stand dann entsprechend Naumanns Wünschen weitgehend im Zeichen einer Blockbildung zwischen links und rechts und eröffnete Chancen für eine Mehrheit der angestrebten Reformkoalition. Die Schlüsselrolle der Liberalen, bei denen vor allem die Linksliberalen Stimmengewinne erzielt hatten, zeigte sich bei der Wahl des Reichstagspräsidiums, das sich nun vollkommen liberal zusammensetzte.

„Mitteleuropäer“ und Verständigungspolitiker

Bis zum Kriegsausbruch 1914 kam die Reformmehrheit aber noch nicht wirklich zustande, jedoch interpretierte Naumann das Verhalten der SPD-Abgeordneten in der Julikrise als Entwicklung in seinem Sinne. Danach stand zunächst einmal alles im Zeichen der Außen- und Kriegspolitik. Naumann selbst, der vor dem Weltkrieg Bemühungen um eine internationale Verständigung tatkräftig unterstützt hatte, interpretierte den Krieg als Deutschland aufgezwungen und war zugleich pessimistisch hinsichtlich seines Ausganges. Dies erklärt seinen „Mitteleuropa-Plan“, der Deutschland bei einem er warteten Kriegsende ohne Sieger zwar einerseits eine führende Stellung im Zentrum Europas bewahren sollte. Andererseits aber sollten sich die „kleineren“ Völker mehr oder minder freiwillig „Mitteleuropa“ anschließen und dort durchaus Mitspracherechte erhalten. Es wurde keine Unterwerfung unter Deutschland, sondern eine „sanfte“, mittelbare, führende und integrierende Rolle der Deutschen als dem zahlenmäßig größten und wirtschaftlich stärksten Land in der Region angestrebt.

Ab 1916/17 besann sich Naumann auf seine Vorkriegsaktivitäten und unterstützte alle Bemühungen um einen Verständigungsfrieden. Der berühmten Friedensresolution des Reichstags vom Juli 1917, mit der auch innenpolitisch die Weichen neu gestellt wurden, stimmte er zu. Mit der neuen linken Friedenskoalition, der nun aber anders als geplant die katholische Zentrumspartei anstelle der Nationalliberalen angehörte, stiegen für Naumann die Chancen, das Kaiserreich doch noch zu einer parlamentarischen Monarchie zu machen. Als dies im Frühherbst 1918 sogar tatsächlich geschah, wähnte sich Naumann und mit ihm viele Liberale am Ziel ihres langen Kampfes für „Demokratie und Kaisertum“.