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Bildung
Fragen an die Wissenschaft

Das Wissenschaftsjahr 2022 stellt die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern in den Mittelpunkt
Nachgefragt! Wissenschaftsjahr 2022

Am 19. Januar 2022 fällt der Startschuss für das Wissenschaftsjahr 2022, das dieses Mal unter dem Motto „Nachgefragt!“ steht. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren, als wissenschaftliche Themen wie Bioökonomie oder Künstliche Intelligenz namensgebend waren, geht es dieses Mal also ganz gezielt um den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesamtgesellschaft. Alle Bürgerinnen und Bürger sollen ermutigt werden, ihre Fragen an die Wissenschaft zu stellen. Die Ergebnisse werden gebündelt und sollen nach einem „Ideenlauf“ in einer Konferenz diskutiert werden, bevor sie an Politik und Forschung übergeben werden. Gleichzeitig finden bundesweit Veranstaltungen und Aktionen statt und auch das Ausstellungsschiff „MS Wissenschaft“ sticht wieder in See.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das dass Wissenschaftsjahr seit 2000 gemeinsam mit der Initiative „Wissenschaft im Dialog“ ausrichtet, hätte sich kaum ein besseres Thema aussuchen können. Welche Aufgaben die Wissenschaft erfüllen kann – und welche vielleicht nicht – sind zentrale Fragen der Gegenwart. In der Coronapandemie wurde immer wieder auf die Wissenschaft geschaut, um Risiken abzuschätzen oder sogar Lösungen zu finden. Doch auch in den Jahren zuvor wurde der Ruf „Follow the Science“ immer lauter. Ob im Umgang mit dem Klimawandel oder der sprachwissenschaftlichen Suche nach dem „Unwort des Jahres“: die Wissenschaft strahlt immer weiter in die Gesamtgesellschaft hinein und wird dabei zunehmend selbst als politischer Akteur wahrgenommen. Auch innerhalb der Wissenschaft selbst finden Veränderungsprozesse statt. Der Wissenschaftskommunikation als dritter Säule neben Forschung und Lehre wird – auch als Reaktion auf entsprechend formulierte Erwartungen – immer mehr Raum gegeben. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Forschungsprozessen, beispielsweise durch das eigenständige Sammeln von Daten, erfährt als „Citizen Science“ ebenfalls neue Aufmerksamkeit.

„Wissensförderndes Unternehmen der Gesellschaft"

Um ein Missverständnis gleich zu Anfang auszuräumen: die Wissenschaft ist selbst ein Teil der Gesellschaft und keineswegs ein „freischwebender Weltbeobachter.“ Sie ist, wie Niklas Luhmann betont hat, ein „wissensförderndes Unternehmen der Gesellschaft“, also ein „Funktionssystem der Gesellschaft.“ Wie beispielsweise die Politik oder die Wirtschaft unterliegt allerdings auch die Wissenschaft einer Eigendynamik, die das System „von Bedingungen und Interessen ihrer gesellschaftlichen Umwelt“ abkoppelt. Dahinter verbirgt sich eine Herausforderung, die auch und gerade durch das Wissenschaftsjahr adressiert werden soll: auf der einen Seite muss die Wissenschaft zwingend nach ihren eigenen Regeln spielen, auf der anderen Seite werden von außen immer mehr Erwartungen an sie herangetragen, die sie nicht erfüllen kann. Besonders begierig schielt die Außenwelt dabei auf die wissenschaftliche „Wahrheit“. Die Wissenschaft ist nun einmal damit beauftragt, „wahr“ und „falsch“ zu unterscheiden – wäre es dann nicht angebracht, politische Entscheidungen streng nach wissenschaftlichen Ergebnissen auszurichten? Politik als geronnene Wissenschaft – hinter dieser Forderung, die zurzeit von unterschiedlichsten Seiten immer wieder ins Feld geführt wird, versteckt sich der alte Traum der Philosophenherrschaft. Doch sie verkennt, was Wissenschaft eigentlich ausmacht und führt im schlimmsten Fall, wie schon Karl Popper beschworen hat, in den Autoritarismus.

Luhmann beschreibt dagegen „Wissenschaft als ein Funktionssystem der (modernen) Gesellschaft, das sich unter historisch vorliegenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu eigener operativer Geschlossenheit ausdifferenziert hat, also selbst diskriminiert, was wahr und was unwahr ist.“ Die Ursprünge dieser Entwicklung führt Luhmann beispielsweise auf die Gründung der „Royal Academy“ zurück, die ihren Aufgabenbereich klar von Theologie und Politik abgegrenzt hat („precluding matters of Theology and State Affairs“). Wer jetzt fordert, dass die Wissenschaft sich genau diese „state affairs“ wieder zur Aufgabe machen sollte, begibt sich daher auf einen gefährlichen Irrweg. Selbstverständlich kann sich die Politik nicht der Realität verschließen und muss wissenschaftliche Erkenntnisse, beispielsweise zum Klimawandel, ernst nehmen. Gleichzeitig kann das Wissenschaftssystem aber keine politischen Lösungen bereitstellen. Die Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen lassen sich keinesfalls mit dem Code „wahr“ oder „falsch“ gegeneinander abwägen und auch die Differenzierung von „Recht“ und „Unrecht“, die von der Justiz vorgenommen wird, kann nicht einfach von der Wissenschaft zur Seite geschoben werden.

Pressekonferenz zum Wissenschaftsjahr 2022
Stefanie Molthagen-Schnöring (l-r) von der Hochschule für Technik und Wirtschaft, Monika Buchenscheit, Mitglied des Bürgerpanels beim IdeenLauf, Katja Becker, Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger stellen sich vor einer Pressekonferenz zum Wissenschaftsjahr 2022 zum Foto auf. © picture alliance/dpa/POOL AP | Michael Sohn

Würdigung der Kommunikation

Doch auch die Wissenschaft muss sich unangenehmen Fragen stellen. Ist „Wahrheit“ wirklich noch die entscheidende Leitdifferenz des Wissenschaftssystems, oder haben Uwe Schimank und Stefan Kühl nicht recht, wenn sie bemerken, dass der Kampf um Anerkennung, Status und „Reputation“ zunehmend das Wissenschaftssystem dominiert? Es scheint zumindest so, dass manch giftiger Streit zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht mehr von der Suche nach Wahrheit, sondern eher vom Twitteralgorithmus geleitet zu sein scheint. Hier ist die Wissenschaft selbst gefragt, Antworten zu formulieren und zu hinterfragen, wofür eigentlich „Reputation“ verliehen wird. Neben Forschungsleistungen sollten beispielsweise auch gute Lehre oder erfolgreiche Kommunikation gewürdigt werden. Entschieden muss aber auch der grassierenden Wissenschaftsfeindlichkeit begegnet werden, die sich beispielsweise in Verschwörungsmythen offenbart – Dr. YouTube ersetzt kein Peer Review und eine Telegram-Gruppe ist keine wissenschaftliche Konferenz.

Die Forderung, die Wissenschaft solle sich daher besser wieder vollständig im Elfenbeinturm verschanzen, führt dagegen in die Irre. Wie wertvoll beispielsweise der Transfer von der Wissenschaft in die Wirtschaft sein kann, hat zuletzt Biontech eindrucksvoll bewiesen. Die Aufgabe muss es daher sein, die Grenzstellenarbeit zu vertiefen sowie Treff- und Transferräume für Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit zu schaffen.  Das Wissenschaftsjahr 2022 ist hierfür ein gutes Beispiel: das Frageformat respektiert die Eigenständigkeit des wissenschaftlichen Systems und erkennt gleichzeitig an, dass die gesamtgesellschaftliche Bewältigung zukünftiger Herausforderungen auf der klugen Nutzung der Informationen beruht, die vom Wissenschaftssystem bereitgestellt werden.