Liberalismus
Die Rückkehr des mündigen Bürgers
Die "Statue of Liberty" ist ein globales Symbol für Freiheit.
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Adam GrayAm 11. November diskutierte die R21-Konferenz „Freiheit in der Krise? Zur Zukunft des Liberalismus“ die Zukunft des Liberalismus in Deutschland und dem Westen: von liberaler Demokratie versus Autoritarismus über Identitätspolitik und Rechtspopulismus bis zur Rolle marktwirtschaftlicher Prinzipien in der Klimapolitik. Die Keynote hielt Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung. Es gilt das gesprochene Wort.
In einer liberalen Demokratie arbeitet der Staat im Auftrag seiner Bürgerinnen und Bürger. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine historische Errungenschaft. Über Jahrhunderte, zu Zeiten von Königen und Fürsten, war das ganz anders. Da war der Staat einfach der Eintreiber von Steuern zur Finanzierung des höfischen Bedarfs und das Instrument der Rekrutierung von Soldaten im Kriegsfall - nach Gutdünken des Herrschers. Der Bürgerwille spielte keine Rolle, von einem "Auftrag" ganz zu schweigen. Entscheidend waren allein die Machtverhältnisse.
Ganz anders in der liberalen Demokratie. Sie versteht den Staat als Ergebnis eines Sozialvertrags, in dem dieser verpflichtet wird, für das gezahlte Steuergeld oder die aufgenommenen Kredite, also die Steuern auf künftige Generationen, wohldefinierte Leistungen zu erbringen - und den Einzelnen ansonsten in seiner garantierten und geschützten Freiheit der Privatsphäre in Ruhe zu lassen. Welche Leistungen genau, darüber wird gestritten - das nennt man dann den politischen Diskurs. Aber wenn die versprochenen Leistungen einmal festliegen, müssen sie geliefert werden.
Es ist völlig normal, dass es in einem demokratischen Staatswesen unterschiedliche Meinungen gibt über das Ausmaß der Lieferpflicht und über die Art und Weise der Lieferpflicht. Es geht also - vereinfacht ausgedrückt - um die Quantität und die Qualität des Staates. In der 76-jährigen Geschichte der Bundesrepublik hatte man lange den Eindruck, dass unser Land in beiderlei Hinsicht im internationalen Vergleich recht gut dastand. Nach der fürchterlichen Nazizeit war dies ein großartiger Erfolg, der übrigens stolze historische Wurzeln hat: Auch das Kaiserreich war, was die Leistungen des Staates für seine Bürger betrifft, gar nicht so schlecht, wenn auch noch keine voll entwickelte Demokratie; und auch die größeren und kleineren Staaten im späteren deutschen Territorium - Preußen und Bayern, Sachsen, Baden und Württemberg und die vielen anderen aufgeklärten Fürstentümer – konnten sich, was die Leistungen des Staates betrifft, durchaus sehen lassen, jedenfalls gemessen an den Standards ihrer Zeit.
Irgendwann in den letzten Jahrzehnten begann sich dies schleichend zu ändern, genauer: zu verschlechtern. Ich datiere den Beginn dieser Änderung grob in den neunziger Jahren, würde aber nicht wagen, mit einem Historiker über den genauen Zeitpunkt zu streiten. Wichtiger ist, was sich änderte. Ich nenne es den Wandel von einem freiheitlichen zu einem paternalistischen Zeitgeist.
Was meine ich damit? Ganz einfach: Vor diesem Wandel war die Basislinie der Politik in Deutschland im Wesentlichen die Soziale Marktwirtschaft, die bürgerliche Liberale mit Ludwig Erhard als frühem Frontmann etabliert hatten. Wohlgemerkt: Diese Ordnung war nie perfekt liberal, es gab eine Fülle von Sünden gegen die reine Lehre der Ordnungspolitik, die postuliert, bei jedem staatlichen Eingriff ein Maximum an Freiheit der Bürger zu sichern. Aber eine "Sünde" ist fast per definitionem keine "normale Praxis".
Ebenso gab es immer eine Art Parallelgesellschaft der Salonrevolution, in der Intellektuelle der politischen Linken von einem ganz anderen System sprachen und träumten, vor allem an den Universitäten. Aber im Rückblick ist klar: Ihr praktischer Einfluss war arg begrenzt, auch wenn sie zeitweise im Bürgertum Angst und Schrecken verbreiteten und in einigen Fällen auch den Terrorismus – damals der RAF – verharmlosten.
Diese "Idylle des Ordoliberalismus" bekam irgendwann vor drei Jahrzehnten Risse, zunächst fast unmerklich, dann aber doch immer besser erkennbar. Die rotgrüne Regierung Schröder-Fischer symbolisiert den politischen Durchbruch eines neuen Paradigmas des Paternalismus, aber der intellektuelle Durchbruch reichte viel weiter - bis tief in die bürgerlichen Kreise der CDU und FDP. Es wurden ehrgeizige gesellschaftliche Ziele postuliert, die schwere Eingriffe in die Freiheit der Menschen mit sich bringen sollten - übrigens vor allem im Namen von drei übergeordneten gesellschaftlichen Zielen, als da sind:
- die ökologische Rettung der Welt;
- die soziale Gerechtigkeit, national und global;
- die Durchsetzung eines Lebensstils ohne Diskriminierung.
Diese Ziele wurden gleichzeitig als überaus dringlich dargestellt. Über die Jahre entwickelte sich eine immer drängendere Botschaft, die jedes Abwarten - und selbst eine gewisse Streckung der Maßnahmen über die Zeit - als Ausdruck von politischem Zynismus deutete. Deutschland müsse als wohlhabendes westliches Land mit leistungsfähiger Wirtschaft und progressiver Gesellschaft als Beispiel vorangehen, das war die Botschaft, und da müssten gefälligst alle mitmachen und ggf. zu ihrem Glück gezwungen werden.
Rund 30 Jahre später, also nach einer Generation, können wir Zwischenbilanz ziehen, was dabei herausgekommen ist. Nur einige Beispiele:
- zur Ökologie: das Ende der Kernkraft im deutschen Alleingang, eine massive staatliche Regulierung der Wärmeerzeugung, deren letzter Höhepunkt das Heizungsgesetz bildete, sowie die forcierte Förderung regenerativer Energien auf breiter Front – mit der Konsequenz einer drastischen Verteuerung der Energie, die Unternehmen und Verbraucher schwer belastet und sich im globalen klimapolitischen Effekt als fast wirkungslos erwies;
- zur Gerechtigkeit: eine Fülle von nationalen und zum Teil auch europaweiten Standards – vom gesetzlichen Mindestlohn über das Bürgergeld, das die Anreize zu Arbeit und Leistung vermindert und zum Sozialmissbrauch einlädt, bis zum Lieferkettengesetz, das Unternehmen mit Bürokratie überhäuft und neue Branchen der „Zertifizierung“ befördert sowie im Ergebnis das Angebot an Waren und Dienstleistungen verteuert;
- zum Lebensstil: eine große Zahl von gesetzlichen Regelungen, die Diskriminierung verbieten und bürokratisch kontrolliert werden, sowie über verschiedene halbstaatliche Kanäle die Durchsetzung sozialer Kultur- und Sprachnormen wie das „Gendern“, die zwar nichts verbieten, sich aber durch forcierten und ständigen Gebrauch an prominenter und privilegierter Stelle gegen den Willen der Mehrheit als Norm durchsetzen.
Tatsächlich kann man das finanzielle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gesamtergebnis dieser Politik – ohne Anspruch auf präzise Kausalanalyse – in wenigen zentralen Punkten zusammenfassen:
- ein Staat, der auf allen Ebenen – Bund, Länder und vor allem auch Kommunen – mit seinen Steuermitteln nicht auskommt und die Schuldenbremse faktisch abschafft, aber trotzdem kaum etwas zustande bringt, auf das man stolz sein kann, eine Welt der maroden Infrastruktur, der rückständigen Digitalisierung, der unpünklichen Züge, der mediokren Schulbildung und der veralteten Bundeswehrausrüstung;
- eine Wirtschaft, die stagniert oder gar schrumpft, zu wenig investiert und für neue Produktionsanlagen – falls überhaupt geplant – das Ausland dem Inland vorzieht, und die in jüngster Zeit eine Strukturkrise nach der anderen durchläuft und Massenentlassungen vornehmen muss, um überhaupt im globalisierten Markt der Industriegüter zu überleben;
- eine Gesellschaft, die tief polarisiert ist – zwischen jenen, die dem progressiven Kurs der forcierten Weltverbesserung aus Überzeugung gerne folgen, und jenen, die sich ihm in aller stilvollen Stille zu verweigern suchen oder mit polterndem Protest ihren Unmut herausschreien – und dabei die Grenzen des guten Geschmacks und der Höflichkeit oft genug weit hinter sich lassen.
Die Leistungsbilanz der Politik, die sich aus diesen Einzelpunkten ergibt, ist rundum negativ. Im Kern lautet sie: Die Politik hat in den letzten 30 Jahren den Staat überfordert, die Wirtschaft überlastet und die Gesellschaft gespalten.
Seit Jahren gibt es daran Kritik. Die allerdings wird in einem Großteil der Medien gerne pauschal als „rechts“ – und damit „reaktionär“ – gebrandmarkt. Es gibt dabei eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der Mehrheit der Medien und der Mehrheit in der Bevölkerung. Umfragen zeigen, dass vor allem, aber nicht nur in den öffentlich-rechtlichen Medien eine klare Mehrheit für den progressiven, „linken“ Kurs steht, während in der Bevölkerung laut Umfragen derzeit nur mehr ein Drittel der Wählerschaft diesen „linken“ Kurs stützt.
In einem Punkt täuscht dieser Befund allerdings: Große Teile der Bevölkerung, die sich als bürgerlich und eher wertkonservativ verstehen, sind gegenüber dem progressiven Trend der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten relativ tolerant oder gleichgültig gewesen, fast unpolitisch. Man überließ der – viel aktiveren – linken Minderheit die Meinungsführerschaft, in einer Art fatalistischen Anpassung an den vermeintlichen Zeitgeist, vergleichbar vielleicht der unpolitischen „skeptischen Generation“ der fünfziger Jahre, die ihren Job machte und dem konservativen Adenauer die Regierung überließ.
Soweit der Status quo. Aber der hat schon begonnen, sich zu verändern. Zumindest meine ich dies wahrzunehmen. Vielleicht ist sogar R21 ein Symptom dieses Wandels, genauso wie diese Veranstaltung heute, die natürlich aus dem linken Spektrum unserer Gesellschaft vorab ordentlich diffamiert wurde.
Mit etwas Mut zur Vereinfachung könnte man von einem Ende des grünen Zeitalters sprechen. War es vor einigen Jahren geradezu selbstverständlich, dass die junge Generation mit „Fridays for Future“-Botschaften auf die Straße ging, so sind diese Demonstrationen nahezu komplett verschwunden – verdrängt durch Sorgen um die berufliche Zukunft, den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands sowie Krieg in Europa und im Nahen Osten. Entsprechend hat sich auch die Einstellung der Väter und Mütter der jeweils jüngsten Generation verändert: vor einigen Jahren noch zur Schau getragenes Verständnis für den ökologischen Alarm der jungen Generation und den Ruf von Greta Thunberg: „How dare you!“ – zu einer nüchternen Abstufung und Abwägung der gesellschaftlichen Probleme.
Ich spreche in dieser Keynote provokant von der „Rückkehr des mündigen Bürgers“ – als Feststellung. Zu viel der Ehre? In gewisser Weise ja, denn das Ende der grünen Dominanz kommt nicht aus einer tieferen Einsicht, sondern eher durch den Druck der Beobachtungen und Ereignisse: Überforderung des Staates, stagnierende Wirtschaft, nervende Bevormundung, kriegerische Auseinandersetzung, düstere Zukunft. Hinzu kommt, dass viele der frustrierten Bürgerinnen und Bürger weit zur populistischen Rechten abdriften und der Demokratie an sich die Schuld an der Misere geben – natürlich kein Ausweis eines „reifen“ Urteils.
Allerdings steckt hinter der tektonischen Veränderung der Stimmungslage auch eine Art Urgefühl der freiheitlichen Selbstbestimmung. „Es ist genug!“ Das rufen die Bürgerinnen und Bürger dem politischen Establishment zu. „Bringt endlich den Laden in Ordnung!“ Und: „Befreit unseren Staat von all dem ideologischen Ballast, den linke Intellektuelle ersinnen, um uns zu gängeln!“ Manche Beobachter sprechen von einem Aufstand der bürgerlichen Vernunft.
Dieser rustikalen Aufforderung müssen meines Erachtens die beiden traditionell bürgerlichen Parteien dieser Republik – die Union und die FDP – Folge leisten. Tun sie es nicht, wird die FDP verschwinden. Und die Union wird gleichfalls in jene politische Machtlosigkeit versinken, die christdemokratische Parteien in anderen europäischen Ländern längst als natürlichen Zustand erleben – man denke nur an die Democrazia Christiana in Italien. Verschwinden der FDP und Machtlosigkeit der Union: Man muss kein bürgerlicher Nostalgiker sein, um zu ermessen, dass dies für die Bundesrepublik Deutschland ein Desaster wäre.
Klar ist seit 2021: Die FDP in der Ampelkoalition und die Union in der derzeitigen schwarz-roten Koalition haben es nicht geschafft, dem Wandel des Zeitgeistes zurück zum mündigen Bürger Rechnung zu tragen. Bei Schwarz-Rot bleibt abzuwarten, was noch kommt, aber der harte Widerstand der SPD und die Zögerlichkeit der Merz-CDU lassen wenig hoffen.
Bleibt die Hoffnung auf einen Wandel mit der nächsten Bundestagswahl spätestens 2029. Soll der gelingen, müssen beide Parteien mit ihren Programmen ein klares Bekenntnis für den mündigen Bürger – und gegen den Paternalismus – ablegen. Es geht durchaus darum, die Gesellschaft ökologisch, gerecht und diskriminierungsfrei zu gestalten, aber bitte ohne jene (obendrein teure) Gängelung, die der grüne Zeitgeist verlangte, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Es geht darum, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass die großen gesellschaftlichen Ziele mit möglichst wenig Zwangseingriffen erreicht werden – und dies in realistischen Zeiträumen, nicht wie bisher mit utopischer Geschwindigkeit.
Praktisch gesprochen müssen wir endlich von der Mikro- zu einer Makrosteuerung übergehen. Die überlässt die Wege zum Ziel der Innovationskraft von Unternehmen und den Verbrauchern – und legt sie eben nicht staatlich fest, wie es Ökonomen schon lange fordern. Aber auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sind mehr Freiräume leicht zu ersinnen: Vorstellungen der gerechten Entlohnung sollten wieder zurück an den Verhandlungstisch der Tarifparteien; und Vorstellungen der gendergerechten Schreib- und Sprechweise sollten nicht dem Diktat halbstaatlicher Institutionen wie dem öffentlichen Rundfunk und den Hochschulen überlassen werden, die ihre eigenen „progressiven“ Vorstellungen der Gesellschaft per quasi-monopolistischem Leistungsangebot aufzwingen.
Klar ist allerdings auch: Der mündige Bürger muss mitmachen. Er muss erst mal aktiviert werden. Dies ist leichter gesagt als getan, denn jene große Reform unseres Staates zurück in Richtung von mehr Mündigkeit für die Bürger bringt auch viele Verpflichtungen mit sich: längere Lebensarbeitszeit und eigenen Beitrag zu einer kapitalgedeckten Rentenversicherung, ein Gesundheits- und Sozialsystem mit mehr Eigenverantwortung, weniger Subventionen für staatliche Dienste und vieles mehr. Mündigkeit heißt eben auch: Bereitschaft zur eigenen Leistung. Und die Politik muss diese Bereitschaft offensiv einfordern – statt sie wie derzeit oft üblich verschämt herunterzuspielen und kleinzureden.
Werden die Bürger mitmachen? Niemand kann dies wissen, aber es gibt auch Grund zum Optimismus: Viele Menschen spüren, dass sie als mündige Bürger mit dem Staat durch einen Sozialvertrag auf Gegenseitigkeit verbunden sind, und dass dieser Sozialvertrag auch Zumutungen mit sich bringt. Sie wollen gar nicht gepampert werden. Sie wollen ehrliche, lösungsorientierte Politik.
Kurzum: Wir stehen vor einem grundlegenden Wandel der politischen Mentalität. Ohne ihn wird Deutschland nicht aus der Sackgasse seiner politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schieflage herauskommen. Der Schlüssel dazu ist als Ideal der „mündige Bürger“ – in seinem Verhältnis zum übergriffigen, paternalistischen Staat.
Frei nach Kant: „Liberale Reform ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“.