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Walter Scheel
„Bonn ist doch nicht Weimar“

Zum Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt am 27. April 1972
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Walter Scheel

© ADL, Fotobestand FD-133, Foto: Jupp Darchinger

Nicht wenige politische Beobachter erwarteten an jenem 27. April 1972 den Kanzlersturz durch ein Konstruktives Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag. Die Debatte verlief äußerst hitzig. Denn es stand der Vorwurf im Raum, die CDU/CSU-Fraktion wolle mit zwar legalen, aber nicht ganz legitimen Mitteln Willy Brandt als Kanzler stürzen. Nachdem als Folge des Abschlusses der Ostverträge bereits 1970 drei FDP-Abgeordnete zur CDU gewechselt waren und nun drei weitere Mandatsträger der FDP erklärten, sie würden gegen Brandt stimmen, war die seit den Wahlen von 1969 knappe parlamentarische Mehrheit der SPD-FDP-Koalition nicht mehr vorhanden. In der Hoffnung auf einen raschen Regierungswechsel stellte die CDU/CSU am 24. April 1972 den Misstrauensantrag, über den drei Tage später im Bundestag debattiert und anschließend abgestimmt wurde.

In der Debatte am 27. April sprachen der Altkanzler, Kurt Georg Kiesinger und die beiden Fraktionschefs Herbert Wehner (SPD) und Wolfgang Mischnick (FDP). Danach folgte eine kurze Rede von Außenminister Walter Scheel, die sich allerdings durch den Beifall der Regierungsparteien fast nach jedem Satz und Zwischenrufe der Opposition erheblich länger hinzog, als die Länge des Manuskripts vermuten ließe.

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Egon Bahr, Walter Scheel, Willi Rasner und Rainer Barzel

© ADL, Fotobestand FD-108, Foto: Jupp Darchinger

"Ein schäbiges Spiel"

Scheel appellierte in seiner Rede an das Gewissen jedes einzelnen Abgeordneten. Er monierte den Versuch der Opposition, „eine Veränderung politischer Mehrheitsverhältnisse ohne Wählerentscheid herbeizuführen“. Das sei zwar formal legitim, gefährde aber die „Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie“. Scheel setzte ganz bewusst darauf, Parlaments- und Wählerentscheid miteinander in Gegensatz zu bringen. Es sei ein „schäbiges Spiel“, was hier ablaufe. Es gehe bei der Abstimmung auch um die politischen Erfolge der letzten zweieinhalb Jahre. Eine Regierung, die durch ein erfolgreiches Misstrauensvotum an die Macht gelange, werde sich auf „politische Überläufer stützen“; ihre „Geburtsstunde wäre vom Makel des Wortbruchs gekennzeichnet“. Scheels Rede war emotional und er setzte ganz auf die Wirkung seines moralischen Appells. Allen war klar, dass es knapp werden würde; so wurde selbst der todkranke CSU-Abgeordnete Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg, dessen gleichnamiger Enkel vierzig Jahre später in den Deutschen Bundestag gewählt werden sollte, per Rollstuhl in den Plenarsaal geschoben. Hochspannung herrschte, als das Ergebnis der Abstimmung um kurz vor halb zwei bekannt gegeben wurde.

Doch zu einem für die Opposition erfolgreichen Misstrauensvotum sollte es schließlich gar nicht kommen, denn Willy Brandt behielt zur großen Überraschung der meisten Beteiligten bei der Abstimmung mit gerade einmal zwei Stimmen gegen den Kanzlerkandidaten der Opposition, Rainer Barzel (CDU), die Oberhand. Entsetzen auf der einen, Erleichterung auf der anderen Seite: Barzel apathisch zusammengesunken; Brandt mit entrücktem Gesicht, umringt von Gratulanten. Barzel, so hatte Scheel in seiner Rede es hämisch prognostiziert, „war wieder einmal zu früh gestartet.“

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Walter Scheel während einer Bundestagsdebatte

© ADL, Fotobestand FD-93, Foto: Jupp Darchinger

"Die Welt hielt den Atem an"

Marion Gräfin Dönhoff kommentierte in der „Zeit“ unter dem Titel „Bonn ist doch nicht Weimar“: „Viel hätte nicht gefehlt – nur zwei Stimmen - dann wäre der 1. Mai mit seinen vielfältigen Kundgebungen zu einem Tag bürgerkriegsähnlicher Zustände geworden; dann nämlich, wenn das konstruktive Misstrauensvotum durchgekommen wäre.“ Sie verwies mit ihrem Titel auf die problematische Anwendung des Misstrauensvotums in der Weimarer Republik, die zur Unregierbarkeit der ersten deutschen Demokratie beigetragen hatte. Auch die Kommentare in der ausländischen Presse zeigten die hohe Aufmerksamkeit und Spannung. „Die Welt hielt den Atem an“, kommentierte das „Svenska Dagbladet“.

Schon unmittelbar nach der Abstimmung gab es Gerüchte über eine angebliche Bestechung. Diese wurde zwar 1973 von einem Unionsabgeordneten zugegeben, aber der parlamentarische Untersuchungsausschuss kam zu keinem schlüssigen Ergebnis. Nach 1990 stellte sich schließlich heraus, dass offenbar auch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR die Abstimmung im Jahr 1972 manipuliert hatte. Auch deuten erst vor wenigen Jahren im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes gefundene interne Gesprächsaufzeichnungen darauf hin, dass man auf Seiten von Regierung und Opposition nicht vor Stimmenkäufen zurückschreckte.

Zwar konnte sich die Regierung Brandt am 27. April 1972 noch einmal in höchster Not retten. Doch nur einen Tag danach scheiterte der Bundeshaushalt an einer fehlenden Regierungsmehrheit. Da die Stimmenverhältnisse knapp blieben und sogar eine Pattsituation im Bundestag entstand, stellte der Kanzler im September schließlich die Vertrauensfrage und es kam im November 1972 zu vorgezogenen Neuwahlen. Diese endeten mit einem grandiosen Wahlsieg für die sozialliberale Koalition und bestätigten somit Kanzler Brandt und Außenminister Scheel, die bis 1974 gemeinsam weiter regierten.

Den Redetext finden Sie hier online (S. 10704-10706):

Bei Interesse an dem Band melden Sie sich beim Archiv des Liberalismus.