Chinas digitale Transformation

Chinas digitale Transformation

Die USA haben seit Dezember 2022 die Nutzung der Kurzvideo-Plattform TikTok, eine nur für den ausländischen Markt angebotene App der chinesischen Firma Bytedance, stark beschränkt. Auch in der EU mehren sich die Stimmen für ein Verbot. Chinas IT-interessierte Netzbürger:innen betrachten das Vorgehen der USA gegenüber TikTok überwiegend nüchtern und verweisen auf die Sperrung von US-Plattformen in der Volksrepublik.

“Wir zensieren doch auch!” – Chinas Netzbürger:innen diskutieren US-Vorgehen gegen TikTok

Was ist passiert?

Die US-Regierung hat die Nutzung von TikTok in den USA seit Ende Dezember 2022 stark beschränkt: Der Kongress, das Militär sowie die öffentlichen Verwaltungen von nahezu der Hälfte der US-Bundesstaaten haben die App auf den Diensthandys ihrer Mitarbeitenden gesperrt. Begründet haben die US-Parlamentarier den Schritt mit der Gefahr des Datenabgriffs von US-Nutzern durch Bytedance, TikToks Mutterunternehmen. Bytedance hatte Ende Dezember 2022 nach einem Leak interner Emails zugegeben, dass Angestellte in den USA und China auf personenbezogene Daten von US-Bürger:innen, unter anderem IP-Adressen von Journalist:innen, zugegriffen hatten.

Auch der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, Thierry Breton, warnte den TikTok-Chef Shou Zi Chew in einem Videotelefonat am 19. Januar davor, dass die EU sämtliche Sanktionsmöglichkeiten ausschöpfen würde, sollte die Plattform für Kurzvideos nicht rechtzeitig vor dem 1. September 2023 die Regularien des Digital Services Act (DSA) erfüllen. Der DSA sieht unter anderem Geldstrafen und gegebenenfalls ein Verbot vor, wenn große Plattformen mit ihren Inhalten die Sicherheit der Bürger verletzten oder illegale Inhalte verbreiten.

Was sagen Chinas Netzbürger:innen dazu?

Das US-Vorgehen gegen TikTok ist auf den populären sozialen Medien-Plattformen kein großes Thema – möglicherweise, weil tatsächlich nur wenige in China TikTok nutzen, denn dort ist lediglich das Pendant Douyin zugänglich. Interessant ist allerdings, dass dennoch Posts über das Thema „USA gegen TikTok“ von den chinesischen Behörden zensiert werden, wie die Zensur-Beobachtungs-Webseite Freeweibo belegt.

Auch auf der Frage-und-Antwortplattform Zhihu, einer Gemeinschaft von IT-Interessierten, ist TikTok kein großes Thema. Dennoch findet sich dort ein bemerkenswertes Spektrum an Meinungen zu den Geschehnissen. Die größte Überraschung: Nationalistische Stimmen sind in der Minderheit.

Für die folgende Analyse haben wir auf Basis der Suchwörter „TikTok“ und „USA“ zwei Beiträge auf Zhihu ausgewählt (einen aus dem Jahr 2020 und einen aus dem Jahr 2022) und die Antworten bzw. Kommentare der Nutzer:innen nach Art ihrer Reaktion kodiert. Wir haben insgesamt 225 Beiträge ausgewertet, denen wir aufgrund ihrer Länge teilweise mehrere Reaktions-Kategorien zugeschrieben haben.

Gemischte Gefühle in Bezug auf das US-Vorgehen gegen TikTok

Gemischte Gefühle in Bezug auf das US-Vorgehen gegen TikTok

In der Auswertung zeigt sich, dass Chinas Netizens insgesamt eher gelassen auf das Vorgehen der USA gegen TikTok reagieren. Nationalistische Beschimpfungen und Rufe nach Gegenaktionen Beijings sind eher selten.

In den Beiträgen der größten Kategorie „Keine Aufregung gegenüber den Aktionen der USA gegen TikTok“ schreiben die Kommentatoren oft, dass die USA letztlich nichts anderes täten als die chinesische Regierung auch:

„Wir dürfen Facebook auch nicht benutzen. Warum sollten wir uns abmühen, darüber zu diskutieren.“

我们一样不能使用脸书,何必这么费力去讨论研究.

Yueguangpuzhao, 28.12.2022

Manche reagieren mit einem ironischen Unterton:

„[Die USA] sollten China folgen und [TikTok] einfach blockieren, so einfach ist das.“

就应该学中国,直接封掉,就是这么简单.

Zhihu-User XJDiTU, 28.12.2022

Die zweithäufigste Kategorie „Beziehungen zwischen China und den USA“ enthält durchaus auch schärfere Töne:

„Es ist absolut eine protektionistische Politik, was sollen da Sensibilitäten? Warum sich nicht einfach auf diesen Welt-,Krieg‘ einlassen, warum nicht hart kämpfen und siegen? Unser Heimatland ist so groß, ist es nicht wert, dafür einen Krieg zu führen?“

[…] 就是保护主义政策导向,[…]有什么敏感的呢,[…]拿参与到世界的“战争”中去,为什么不能争强好胜。家国那么大, 不值得一战吗?

Xiaobaijianghu, 28.12.2022

Nüchterne und ironische Kommentare bezüglich einer Entkopplung von den USA überwiegen jedoch:

„Müssen die USA dann auch ein VPN benutzen, um chinesische Software herunterzuladen?“

所以美国也要用上VPN去翻墙下载中国的软件了嘛?

Jienxiaowo, 19.09.2022

An dritthäufigster Stelle finden sich Kommentare, in denen Zhihu-Nutzer:innen das Vorgehen der USA durch den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen TikTok und der US-Konkurrenz begründet sehen:

„Diese [US-]Unternehmen sind nicht nur deshalb unzufrieden mit TikTok, weil die Muttergesellschaft aus China stammt, sondern auch, weil TikTok ihnen die Follower-Zahlen und Werbeeinnahmen wegnimmt.“

这些公司不满意Tik Tok,不仅仅是因为Tik Tok的母公司是中国公司,更是因为Tik Tok

抢走了“原本属于它们”的粉丝数量、广告费用. Wangsuxikanshijie, 28.12.2022

Was bedeutet das?

Die Enthüllung des Missbrauchs der persönlichen Daten von US-Journalisten durch TikTok hat auch in der EU die Dringlichkeit erhöht, Datenmanagement, -speicherung und -transfer dieser App in Drittländer zu regulieren. Ob und wie Europa die Herausforderung meistert, wird die Umsetzung neuer EU-Verordnungen wie dem Digital Service Act zeigen.

Die chinesische Regierung verzichtet bislang darauf, über die Staatsmedien nationalistisch gefärbte Kommentare zum Vorgehen der USA und Europas zu verbreiten. Dies könnte darauf hindeuten, dass Beijing die EU nicht direkt zum Ergreifen schärferer Maßnahmen provozieren möchte und auf einen Dialog zwischen TikTok-CEO Shou Zi Chew und der EU setzt. Anders als im Fall der USA scheint China die Hoffnung auf eine Kompromisslösung mit der EU nicht aufgegeben zu haben.

Dass Chinas IT-interessierte Netzbürger:innen das US-Vorgehen überwiegend nüchtern betrachten, deutet auf ein möglicherweise geringes Potential zur Mobilisierung nationalistischer Stimmungen im Bereich IT-Politik – und damit im weiteren Sinne im anhaltenden Tech-Konflikt mit den USA. Aus Sicht der EU und Deutschlands kann es als ermutigendes Signal verstanden werden, dass Chinas Internetnutzer durchaus in der Lage scheinen, sich eigene, von der Regierungssicht abweichende Urteile zu bilden. Ein Reputations- oder Vertrauensverlust der EU bei Chinas IT-Experten ist somit im Fall eines härteren Vorgehens gegen TikTok nicht unbedingt zu erwarten.

China Spektrum Reader Februar 2023

  • China Spektrum Reader Februar 2023

    Debatten über Ende von Null-Covid, TikTok unter Druck und Beziehungen zur EU

Skepsis gegenüber dem digitalen Yuan

Zwischen dem Schutz personenbezogener Daten und dem Kampf gegen illegale Transaktionen müsse eine „delikate Balance“ gefunden werden, erklärte Chinas Zentralbankchef Yi Gang Ende Oktober 2022 mit Blick auf Chinas digitalen Yuan (e-CNY,数字人民币). Yu sagte das aus gutem Grund, denn die Adaption des e-CNY als Zahlungsmittel ist trotz intensiver offizieller Bemühungen ins Stocken geraten. Zwar hat der e-CNY im Oktober den Meilenstein von 100 Milliarden Yuan (ca. 13,41 Milliarden EUR) Transaktionsvolumen durchbrochen. Allerdings verblasst dieser Wert im Vergleich mit Chinas beliebtem Zahlungsdienst Alipay, welcher auf ein Transaktionsvolumen von mehr als zehn Billionen Yuan (ca. 1,34 Billionen EUR) kommt.

Ein kurzer Blick auf die Entwicklung des e-CNY:

  • 2014 richtete die chinesische Zentralbank PBOC eine Forschungsgruppe für die digitale Währung (Central Bank Digital Currency, CBDC) mit einem Fokus auf Blockchain-Technologien ein.
  • 2013 schränkte die chinesische Regierung geschäftliche Aktivitäten von Finanzhäusern mit Bitcoin und anderen Kryptowährungen (虚拟货币) ein. 2021 folgte das offizielle Verbot für alle Transaktionen.
  • Seit 2020 versucht die chinesische Regierung mit der Ausweitung von regionalen Pilotprojekten, Vertrauen in die neue Währung zu schaffen. Mittlerweile existieren in rund 15 Provinzen Versuchsprojekte, unter anderem zu Finanzdienstleistungen, Bezahlmöglichkeiten und Gehaltsauszahlungen.
  • Bis zum 31. August 2022 wurden in den Pilotgebieten 360 Millionen Transaktionen im Wert von rund 100 Milliarden Yuan (ca. 13,41 Milliarden EUR) abgewickelt. Die offizielle eCNY-App der chinesischen Zentralbank nutzten im  Frühjahr 2022 rund 260 Millionen Menschen.

Chinas Experten zweifeln an rascher Etablierung des digitalen Yuan

Finanzexpertinnen und -experten in China begegnen den offiziellen Aussagen und Plänen der Regierung für den e-CNY mit Skepsis. Auf der renommierten, mit der Peking-Universität verbundenen Plattform Aisixiang verweisen Kommentatoren vor allem auf drei kritische Punkte:

1. Der e-CNY besitzt eine “kontrollierbare Anonymität” (可控匿名)

Chinas e-CNY basiert auf einem zentralisierten Betriebsmodell mit einer sogenannten „kontrollierbaren Anonymität“, das bedeutet Nutzerdaten dürfen nur unter bestimmten Bedingungen eingesehen oder weitergegeben werden. Dennoch sehen Nutzer:innen weiterhin ein großes Problem im mangelnden Schutz personenbezogener Daten. In einer Umfrage des renommierten iResearch-Instituts vom Februar 2022 nannten 54 Prozent der Befragten „Risiken für Schutz der Privatsphäre“ als Problem, welches nur durch „Manipulationsrisiken“ (64 Prozent) noch übertroffen wird.

Als problematisch bewerten die Kommentatoren die Anonymitätsanforderungen und die Guthaben- und Transaktionslimits der digitalen Geldbörsen. Mu Changchun (穆长春), Leiter des Instituts für digitale Währung, erklärt das Konzept mit der Redensart „kleine Mengen sind anonym, große Mengen sind nachweisbar“ (小额匿名、大额可溯). 

  • Niedrige Guthaben- und Transaktionslimits ermöglichen die Wahrung der Anonymität.
  • Eine Erhöhung des Transaktionslimits erfordert höhere Identifizierungs- und KYC-Standards (Know Your Customer), z.B. durch Angabe von Ausweis- und Bankdaten.

Die Behörden versichern, dass die Zentralbank sich an das chinesische Datenschutzgesetz (PIPL) hält und ohne offizielle Autorisierung, zum Beispiel von Strafverfolgungsbehörden, Dritten keinen Zugang zu persönlichen Finanzdaten gewährt. Expert:innen, darunter Wang Yongli (王永利), ehemaliger Executive Direktor der Bank of China, fürchten Lücken in der Gesetzgebung.

2. Der e-CNY ist nicht Teil einer abgestimmten Strategie zur Internationalisierung des Yuan

Experten sehen mehrere Gründe, weshalb der e-CNY wenig Potential bietet, die Internationalisierung des Yuan voranzutreiben:

  • Der e-CNY ist laut dem Weißbuch der chinesischen Zentralbank ein Einzelhandel-CBDC. Anders als Großhandel-CBDCs, die Zahlungen zwischen Finanzinstituten auf internationaler Ebene beschleunigen und erleichtern, dienen Einzelhandels-CBDC nur zum Austausch zwischen Verbrauchern und Unternehmen. Laut der Zentralbank wird der e-CNY nur als Geldmengenkategorie M0 (Bargeldersatz) auf den Markt gebracht.
  • Chinas strenge Kapitalverkehrskontrollen sorgen dafür, dass der Yuan im Land bleibt und verhindert somit, dass die Währung Einfluss am internationalen Kapitalmarkt gewinnt. Inländische Haushalte dürfen nicht im Ausland investieren, und ausländischen Anlegern ist der Zugang zu den chinesischen Finanzmärkten verwehrt.

So betonen auch die Ökonomen Zhang Ming (张明) und Wang Zhe (王喆), dass digitale Währungen nur eine Form der Währung sind, und der Fortschritt der Internationalisierung des Yuans letztlich von der wirtschaftlichen Stärke des Landes, seiner Position in der industriellen Wertschöpfungskette und der Tiefe, Breite und Liquidität der Finanzmärkte abhängt.

3. Es ist nicht sicher, ob der e-CNY die Konsumenten überzeugen wird

Der e-CNY hat gegenüber den etablierten und privaten digitalen Bezahldienstleistern, Alipay und WeChat Pay, folgende Nachteile:

  • Durch die Kategorisierung „M0“ wird er wie nicht verzinsliches Bargeld  behandelt. Geld auf Plattformen wie Alipay wird der Geldmengenkategorie M2 zugeordnet und ist mit einer institutionellen, verzinsbaren Einlage zu vergleichen.
  • Die Transaktionskapazität des e-CNY ist vergleichsweise beschränkt. Die derzeitige Transaktionsrate beträgt 10.000 TPS (Transaktionen pro Sekunde) mit einem Potential bis zu 300.000 TPS. Alipay erreichte bereits 2019 während des als Single’s Day bekannten Shopping-Festivals 544.000 TPS.

Obwohl einige Behörden bereits Gehälter in e-CNY auszahlen, liegen keine Daten dazu vor, wie viele Menschen ihr Gehalt tatsächlich digital erhalten möchten. Der ehemalige Zentralbank-Chef Zhou Xiaochuan (周小川) warnt vor unerwünschten Konsequenzen. Der Staat könne zwar bestimmte Dinge festlegen, damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Parteien einer Finanztransaktion auf Basis des e-CNY vertrauen. Es kann sein, dass Käufer und Empfänger das Mittel nur vorübergehend nutzen und die digitale Währung sofort wieder zurücktauschen.

Kritische Meinungen zum E-CNY

Kritische Meinungen zum E-CNY

Wirtschaftliche Stabilität und Vertrauen in Datenschutz sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg des digitalen Yuan

In Anbetracht der großen Skepsis steht die chinesische Regierung vor großen Herausforderungen, um den digitalen Yuan zu etablieren. Die Protestwelle in China, u.a. auch gegen die strikte Kontaktnachverfolgung durch die Health Code-App, zeigten, dass das Bewusstsein für personenbezogene Daten allgemein gewachsen ist – und auch die Skepsis bezüglich der Aufbewahrung dieser Daten bei offiziellen Stellen. Hinzu kommt, dass für eine Ausweitung und Wertstabilisierung beständiges Wirtschaftswachstum die Voraussetzung ist.

Um diesen Hindernissen zu begegnen, hat die chinesische Regierung verschiedene Möglichkeiten. Dazu zählen neben einer Verpflichtung der Nutzung des e-CNY für kommerzielle Zahlungsdienste wie Alipay oder Tencent-Pay auch die Nutzung als internationales Zahlungsmittel, um dem internationalen Zahlungssystem SWIFT etwas entgegenzusetzen und sich vom US-Dollar unabhängiger zu machen. Insofern ist die weitere Politik bezüglich des digitalen Yuan auch ein Indikator dafür, ob China den Binnenkonsum als Wachstumsmotor priorisiert oder auch weiterhin auf Exporte bzw. auf Handelsabkommen setzt.

Weiterführende Informationen:

China Spektrum Report Januar 2023

  • China Spektrum Report Januar 2023

    Olaf Scholz in Beijing + Mehr Staat für die Wirtschaft + Skepsis gegenüber digitaler Währung