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Wirtschaft
Entspannt absteigen

Selbst in Schwellenländern funktioniert mittlerweile vieles besser. Deutschland lässt sich von autoritären Staaten überholen. Warum gerät hier niemand in Panik, fragt Frederic Spohr.

Deutschland, so glauben viele Asiaten noch, ist wie der Nationalspieler Toni Kroos: ehrgeizig, technisch brillant und effizient. Im Ausland wurde ich oft auf die vermeintlichen Qualitäten der Bundesrepublik angesprochen. Irgendwann habe ich selbst daran geglaubt. Dann kehrte ich zurück in meine Heimat. Nach fast sieben Jahren in Asien lebe ich gerade für ein paar Wochen in Deutschland. Ich erwartete ein Land, das sich über eine chaotisch werdende Welt wundert. Das über Trumps Handelskriege, verrückte Briten und dominante Chinesen klagt, aber zumindest seinen eigenen Laden penibel in Ordnung hält.

Ich bin jetzt seit zehn Wochen zurück und weiß, ich habe mich getäuscht. Das Klischee zu Deutschland entpuppt sich als so trügerisch wie die Abgasangaben deutscher Autohersteller. Wer durch das Land reist, egal mit welchem Verkehrsmittel, wer in Amtsstuben oder Bürgercentern etwas zu erledigen hat oder schlimmstenfalls in einem Callcenter anrufen muss, der merkt schnell: Kaum etwas funktioniert. Und wenn doch, dann dauert es ewig. Trotzdem bleiben alle auf beängstigende Weise entspannt.

Lieber beschäftigen sich die Deutschen mit glutenfreier Ernährung, versuchen, ihre eigenen Gesetze zu verstehen, oder diskutieren über die Macht alter weißer Männer. Was den letzten Punkt betrifft, kann ich dank meiner Erfahrungen in Asien beruhigen: Der alte weiße Mann hat bald ohnehin nicht mehr viel zu sagen. Er wird von einer aufstrebenden bunten Jugend verdrängt – und er verdient es nicht besser.

Ich bin Verwaltungschaos und staatliches Versagen gewohnt. In den vergangenen Jahren war ich in Ländern unterwegs, deren Pro-Kopf-Einkommen nur ein Bruchteil von dem Deutschlands beträgt. Bei Projekten musste ich immer mit dem Schlimmsten rechnen: dass ich plötzlich in einem Megastau feststecke; dass die Straße überschwemmt wird, dass ein Zug stoppt, weil er gegen eine Kuh gefahren ist.

Mittlerweile weiß ich: In Deutschland muss ich die gleichen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Der ohnehin kaum ausgebaute öffentliche Nahverkehr zu den Berliner Flughäfen ist reines Glücksspiel. Sechsmal bin ich mit der Bahn zwischen Bonn und Berlin gependelt – sechsmal war die Fahrt wegen Verspätungen und Defekten eine Katastrophe. Reisen in die thailändische Provinz sind oft einfacher.

Zwischen meinen Beobachtungen in Asien und Deutschland gibt es aber einen gravierenden Unterschied. Selbst in den ärmsten Ländern der Region lande und starte ich immer häufiger in hochmodernen Flughäfen, habe selbst in entlegenen Gebieten eine 4G-Verbindung und kann viele Geschäfte per Smartphone abwickeln.

Während asiatische Länder alles daran setzen, die Missstände zu beseitigen, passiert in Deutschland genau das Gegenteil. Hier ist man stolz auf das Erreichte, ohne zu merken, dass der Vorsprung wöchentlich schmilzt. Das kann man als satt und zufrieden bezeichnen – oder aber als blind und überheblich.

Erzähle ich Bekannten davon, dass sich die Verkehrssysteme Südostasiens und Deutschlands immer weiter annähern, und zwar von beiden Seiten, reagieren sie nur mit Achselzucken: Die Dysfunktionalität der Deutschen Bahn ist mittlerweile gesellschaftlicher Minimalkonsens und gilt als so unabänderlich wie schlechtes Wetter. Sich darüber zu beschweren ist in vielen Kreisen der Inbegriff des Spießertums.

Meine Erfahrungen mit der Verwaltung sind ähnlich ernüchternd. Für die deutsche Verwaltung stellte es schon eine Herausforderung dar, meine Steuerklasse zu ändern. Einmal wurde ich fünfmal weiterverbunden – bis die Verbindung auf einmal abbrach. Eine Erfahrung, die ich sonst nur bei Recherchen in indischen Ministerien machen musste.

Wer sich darüber beschwert, hört schnell: Kein Wunder, die öffentliche Verwaltung sei in den vergangenen Jahren ja auch kaputtgespart worden. Dass stattdessen Arbeitsprozesse optimiert und digitalisiert werden müssen, ist erst der zweite Gedanke. Vor allem: Wenn der Staat etwas haben will, zeigt er sich überraschend fortschrittlich und entschlossen. Ich habe schon Lohnsteuer gezahlt, da konnte mich noch kein Beamter im Computersystem finden.

Deutschland ist ein schönes Land – tolerant und weitgehend offen, es bietet eine hervorragende Lebensqualität und eine gute soziale Absicherung. Nach den Jahren in Asien blicke ich auf mein Heimatland mit viel Bewunderung, vor allem aber mit großer Sorge. Ich frage mich: Wie lange können wir uns diese Behäbigkeit noch leisten?

In Asien wird härter gearbeitet als in Europa. Das gilt nicht nur für arme Näherinnen und Bergmänner. Zu meinem Bekanntenkreis in Asien zählen Naturwissenschaftler, Ingenieure und Programmierer, alle hervorragend ausgebildet. Die meisten von ihnen bleiben in ihrer Heimat und verdienen zunächst weniger als die Hälfte als ein Straßenreiniger in Deutschland. Trotzdem geben sie alles für den individuellen Aufstieg und den ihrer Gesellschaften.

Es gibt einen Grund, warum zahlreiche Chefs von US-Unternehmen mittlerweile aus Indien kommen. Ihr unbändiger Aufstiegswille hat sie aus den staubigen Dörfern des Subkontinents in die Schaltzentren des Silicon Valley getrieben. Frauen in Asien beschweren sich nicht darüber, dass sie nach einem Studium der Gender-Wissenschaften nur unbezahlte Praktikumsplätze bekommen. Sie werden einfach hervorragende Ingenieurinnen oder Programmiererinnen und suchen sich dann einen gut bezahlten Job.

Es ist kein Naturgesetz, dass es den Menschen in Europa besser geht. Deutsche Unternehmen zahlen ihren Angestellten mehr, weil sie noch eine effizientere Infrastruktur nutzen können. Weil ihre Fabrikarbeiter an modernen Maschinen stehen und sie für ihre innovativen Produkte auf dem Weltmarkt höhere Preise verlangen können. Das Land profitiert von seinem großen Vorrat an Kapital, auch dem geistigen. Aber wie lange noch? Kapital bewegt sich dorthin, wo es am produktivsten eingesetzt werden kann. Die Produktivität hat in Deutschland zuletzt kaum noch zugelegt, im vergangenen Jahr stagnierte sie laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sogar. In anderen Staaten nimmt diese Kennzahl regelmäßig zu. Was mich besonders beunruhigt: Ihre Regierungen sind selten demokratisch.

Ich will Freiheit, hohe Arbeitsstandards oder Klimaschutz nicht dem wirtschaftlichen Erfolg opfern. Im Gegenteil: Die Aufgabe meiner Generation wird es sein, diese Ziele im globalen Wettbewerb zu verteidigen. Doch um das zu schaffen, muss sich Deutschland von seiner behäbigen Überheblichkeit verabschieden. Es muss sich künftig intensiver fragen: Welche Regeln schützen und nützen den Bürgern wirklich, und welche haben wir nur aus Bequemlichkeit oder Angst vor Veränderungen?

Besonders stutzig macht mich, dass Deutschland ausgerechnet dort ins Hintertreffen gerät, wo es doch Vorreiter sein will: beim Klimaschutz. In meiner Heimatstadt Calw im Nordschwarzwald wird seit etwa 15 Jahren darüber diskutiert, ob eine Zugverbindung nach Stuttgart wieder in Betrieb genommen werden soll. Für das Vorhaben müsste ein stillgelegter Eisenbahntunnel durchfahren werden. Vor 150 Jahren haben Männer den Tunnel durch den Berg getrieben. Heute könnte die Zugstrecke wieder einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Dummerweise nutzt eine Fledermauskolonie den Tunnel als gelegentliches Übergangsquartier. Außerdem haben viele Anwohner Angst vor dem Lärm.

Als Journalist in Asien habe ich einen Artikel über Klimaflüchtlinge geschrieben. Ich traf verzweifelte Menschen in den Slums von Dhaka, die wegen zunehmender Stürme ihre Dörfer verlassen mussten. Wie sollte ich ihnen die Situation in meinem Heimatort erklären? Klar, wir könnten einen Beitrag dazu leisten, dass ihr nicht absauft. Aber denkt doch mal an die Mopsfledermaus-Unterkunft und den Lärm!

Deutschland muss wieder beweglicher werden – und in großen Kategorien denken. Während deutsche Städte panisch Fahrverbote verhängen und dabei wissenschaftlich diskutable Maßstäbe anwenden, setzt man im Fernen Osten auf Technologie statt Ideologie. Kuala Lumpur wird schon bald mithilfe künstlicher Intelligenz des chinesischen Internetkonzerns Alibaba seinen Verkehr lenken.

Der malaysische Regierungschef Mahathir bin Mohamad ist 94 Jahre alt, aber er ist ein größerer Visionär als die halb so alte deutsche Digitalstaatsministerin Dorothee Bär. Wenn sie dann doch einmal von Flugtaxis spricht, wird sie in Deutschland kurioserweise dafür ausgelacht. Durch Singapur sollen noch dieses Jahr testweise bemannte Taxi-Drohnen fliegen. Sie wurden von einem deutschen Start-up entwickelt.

 

Frederic Spohr leitet die Teams der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Thailand und Myanmar. 

Dieser Artikel erschien erstmals in der Welt am Sonntag am 15. September 2019.