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Mali
Der Militärputsch in Mali: die Bilanz eines langjährigen Staatsversagens

Ismael Wague (M.), Sprecher der Putschisten, auf einer Pressekonferenz
Ismael Wague, Sprecher der Putschisten © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited  

Mit dem Militärputsch und der erzwungenen Abdankung des 75-jährigen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita (IBK) am 19. August 2020 ist die Demokratie in Mali scheinbar ein weiteres Mal gescheitert. Mali kann auf eine unrühmliche Tradition von Militärputschen in der kurzen Geschichte seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1960 zurückblicken. Letztlich ist aber auch der jetzige Putsch leider nicht verwunderlich, wenn man sich die Umstände anguckt, die den westafrikanischen Staat in den letzten Jahren vom „fragile State“ immer mehr zum „failed State“ verwandelten.

Als IBK vor sieben Jahren als demokratisch gewählter Präsident das Land aus der Transitionsphase eines vorangegangenen Militärputsches übernahm, lagen alle Hoffnungen der Malier für Frieden und Entwicklung auf ihm. Das Land war noch traumatisiert von der „großen Krise“, die Anfang 2012 mit dem bewaffneten Konflikt mit den Jihadisten im Norden begonnen und dann zu einem Staatsstreich und der Intervention der französischen Armee geführt hatte.

Es zeigte sich jedoch schnell, dass weder der Präsident noch die von ihm eingesetzte Regierung einen Plan hatte, das krisengeschüttelte Land zu stabilisieren. Die Prioritäten schienen woanders gesetzt zu werden. IBK war bereits in seiner Zeit als malischer Premierminister von 1994 bis 2000 zu einem der reichsten Männer des Landes aufgestiegen; das Präsidentenamt gab ihm nun  die Gelegenheit, für und seine politische Clique Geld, Ruhm und Ansehen zu mehren. Als er in einer seiner ersten Amtshandlungen im Jahr 2014 für stolze 40 Millionen USD ein neues Präsidentenflugzeug erwarb, wurden die Handlungsparameter seiner kommenden Regierungsführung symbolisch vorweggenommen.

Was sodann der Bevölkerung eines der ärmsten Länder der Welt in den darauffolgenden Jahren zugemutet wurde, war nichts anderes als ein massives Staatsversagen, angeführt von einer korrupten politischen Elite, die den Staat als Beute betrachtete. Zwar war Mali nie ein besonders transparentes Land gewesen, doch stellte diese sichtbare Straffreiheit, mit der Nepotismus und Veruntreuung staatlicher Gelder in einen von überbordender Bürokratie völlig funktionsunfähigen Staatsapparat einzogen, alles Vorherige in den Schatten.

Dies betraf nicht nur den Justizapparat oder die klassischen Sektorministerien, die zu Selbstbedienungsläden ihrer eigenen Behördenleiter wurden. Korruption, Bürokratie und staatliche Inkompetenz verhinderten, dass die schwache malische Wirtschaft wachsen konnte, während der informelle Sektor und die Armut weiter zunahm. Der noch von alten sozialistischen Gedanken geprägte Präsident war immer skeptisch gegenüber großen Unternehmen und privaten ausländischen Direktinvestitionen gewesen und so tat er alles, um diese vom Land fernzuhalten. Notwendige Reformen wurden verschleppt oder nicht umgesetzt. Trotz einiger,  wenig transparenter, (vornehmlich) chinesischer Großinvestitionen im Landwirtschaftsbereich und einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 5%, blieb das Land weit unter seinen Möglichkeiten. Mit einem Bevölkerungswachstum von nahezu 3% und mehr als 70% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, brauchte es einfach mehr, um sichtbare armutsmindernde Veränderungen zu schaffen. Somit blieben die Hilfsleitungen der internationaler Geber die einzigen zuverlässigen Kapitalströme in das Land hinein.

Das wahrscheinlich größte Versagen von IBK und seiner Regierung blieb jedoch der Sicherheitsbereich. Zunächst gelang es nicht, wirkungsvoll gegen die Jihadisten unter dem Dach der „Groupe de soutien à l’islam et aux musulmans“ (GSIM) vorzugehen, die nun alle Vertragsparteien des 2015 abgeschlossenen Friedensabkommens von Algier ins Visier nahmen. Neben den sich verschärfenden Spannungen zwischen den mehrheitlich arabisch- und berberstämmigen Bevölkerungsgruppen aus dem Norden Malis und den afrikanisch geprägten Stämmen aus dem Süden, nahm die Gewalt in anderen Landesteilen zu. Zum ersten Mal kam es zu extremer interethischer Gewalt in Zentralmali, die vor allem Milizen der Volksgruppen Dogon und Pheul ausüben und die sich mit dortigen jihadistischen Kräften vermischt haben. Diese Konflikte in der zentralen Region Mopti haben bis heute nahezu bürgerkriegsähnliche Ausmaße angenommen. Ethnische Milizen oder kriminelle Banden setzen Gebietsansprüche mit äußerster Brutalität durch. Massaker an der Zivilbevölkerung sind zur Normalität geworden. Gleichzeitig nehmen Gewaltakte gegen alle Vertreter der staatlichen Ordnung rapide zu, was dazu führt, dass die bereits ausgedünnte und ineffektive staatliche Präsenz noch weiter zurückgedrängt wird. 

Doch war gerade die Sicherheitsfrage, gekoppelt an einen nachhaltigen Frieden, das Fundament  von IBKs Wahlprogrammen gewesen. Selbst bei seiner von der Opposition angefochtenen Wiederwahl im August 2018 hatte der Präsident als Mittler und „einende“ nationale Vaterfigur bei den Wählern noch überzeugen können. Die hohen Erwartungen wurden sodann jedoch bitter enttäuscht. Das Resultat ist verheerend, und ein Ende der Gewalt in den Nord- und Zentralregionen ist weiterhin nicht in Sicht.

Dazu kommt, dass die malischen Sicherheitskräfte nicht ansatzweise in der Lage sind, ihre eigene Bevölkerung zu schützen. 

Sicherlich gibt es für die desolate Sicherheitslage im Land eine ganze Reihe von Ursachen, auch viele, die nichts mit der Politik in Bamako zu tun haben. Doch hat der von IBK geförderte Regierungsstil die ehedem überforderte malische Armee weiter geschwächt; das Militär wurde schrittweise zur verlängerten Spielwiese des korrupten Regierungsapparats.

So installierte der Präsident seinen Sohn als Vorsitzenden der Verteidigungskommission im Parlament.  Karim Keita, der ein Faible für Luxusgüter hat und es sich in einem der ärmsten Länder der Welt nicht nehmen lässt, damit in den sozialen Medien zu protzen, sorgte nunmehr dafür, dass fehlerhaftes Rüstungsmaterial aus dubiosen Quellen zu überhöhten Preisen offiziell für die Armee angeschafft wurde. Eine desolate Ausrüstung war die Folge, und ohne westliche Militärhilfe wäre das malische Militär wahrscheinlich noch weniger einsatzbereit. Hohe Offiziere der Armee hielten sich nicht minder zurück und verdienten Millionen am Verkauf des steuerfreien Armeetreibstoffs auf dem Schwarzmarkt. Andere Offiziere drücken bei entsprechenden Zahlungen durch lokale Clanchefs gerne mal ein Auge zu, patrouillieren in gewissen Gebiete nicht oder vermeiden Präsenz in bestimmten Dörfern. Auch wenn die Anwesenheit der UN Stabilisierungsmission MINUSMA in Mali bis heute viele Fragen aufwirft und die Art des Einsatzes sicherlich diskussionswürdig ist, so bleibt sie doch ein verlässlicher Pfeiler für Ausbildung und Logistik der malischen Armee; letztere wäre sonst wahrscheinlich einfach auseinandergefallen.

Als Ende März 2020 der Hoffnungsträger der parlamentarischen Opposition, Soumaila Cisse, von jihaidistischen Kräften entführt wurde, war dies nicht nur symptomatisch für die mangelnde Sicherheit im Lande, sondern auch ein Schlag gegen die verbleibende demokratische Ordnung.  

Cissé, der sich bis heute in der Hand seiner Entführer befindet, gilt als beliebter Politiker mit hoher Glaubwürdigkeit. Er nutzte als Oppositionsführer alle demokratischen Mittel, um gegen Korruption und Nepotismus des IBK Regimes zu Felde zu ziehen. Mit seiner Entführung wurden die letzten demokratischen Kontrollmechanismen weiter geschwächt.

Die Akkumulation von Korruption, Mangel an demokratischer Kontrolle und Rechtstaat, wirtschaftlicher Stagnation sowie fehlender Sicherheit beschleunigten somit den massiven Vertrauensverlust der Malier in ihren eigenen Staat. Als letztes kam dann die Corona Krise hinzu, die - wenn auch in Mali bisher nicht so verheerend wie in anderen Ländern - weiter den Unmut der Bevölkerung schürte. Als Alternative wandten sich die Menschen den religiösen Führern des Landes zu, deren Glaubwürdigkeit von großen Teilen der religiösen Bevölkerung nie in Frage gestellt worden war.  Seit 2019 gingen immer mehr Menschen in der Hauptstadt Bamako auf die Straße und demonstrierte unter Führung des Salafistenpredigers Mahmoud Dicko gegen den Präsidenten und seine Regierung. In den letzten Monaten vor dem Militärputsch kam es zu wöchentlichen Massendemonstrationen, die die inzwischen vom Dicko ins Leben gerufenen Bewegung  CMAS (Coordination des Mouvements, Associations et Supporteurs -CMAS) organisierte. Weitere Gruppen diversester politischer Couleur schlossen sich dem an und gründeten schließlich mit der Bewegung M5-RFP (Mouvement du 5 juin-Rassemblement des Forces Patriotiques) eine Art ausserparlamentarische Opposition, die der Wunsch nach Ende der Präsidentschaft von IBK einte.

Nach Jahren der Untätigkeit war der Präsident mit der Eskalation der Situation auf der Straße  sichtlich überfordert; einmal ließ er die Demonstranten gewaltsam auseinandertreiben, dann rief er zum nationalen Dialog auf. Beides hatte keinen Erfolg und führte nur zu weiteren Eskalationen.  Wenn es aus Regierungskreisen in Bamako in den Wochen vor dem Putsch lautete, der Präsident ändere drei Mal am Tag seine Meinung, mag dies übertrieben klingen, traf aber sicher den Kern der Sache.

Mit diesem langen Vorlauf spitzte sich die Situation im Lande soweit zu, dass man einen Putsch befürchten musste, wie es leider so häufig in der malischen Geschichte bereits passiert ist. Ein kleine Gruppe hochrangiger Militärs proklamiert sich zum „Retter der Nation“, um das heruntergewirtschaftete Land „vor dem Chaos zu bewahren“. Nach sieben Jahren ist IBK damit gezwungenermaßen und ohne großen Widerstand aus dem höchsten Amt Landes ausgeschieden. Parlament und Regierung wurden gleichzeitig aufgelöst, die Grenzen geschlossen. Die internationalen Nachrichtenagenturen sprachen von jubelnden Bürgern in Teilen Bamakos und einem friedlich verlaufenden Machtwechsel. Die federführenden Generäle kündigten sodann die Bildung eines „Nationalen Komitees für Volkswohlfahrt“ an, und äußerten ihre Absicht, einen zivilpolitischen Übergang einzuleiten. Vorher solle jedoch in einer Übergangsphase eine neue Verfassung ausgearbeitet werden, die die Funktionsfähigkeit des Staates erneuert und die nationale Einheit bewahrt.

Wie diese Neuorganisation genau aussehen soll, bleibt vorerst dahingestellt. Die Huldigung des Nationalstaatsgedankens ähnelt den Schlagworten mit denen auch vorangegangene Militärputsche im Land gerechtfertigt wurden. Auch ist über die Putschisten selbst wenig bekannt; es handelt sich bei vielen Mitgliedern der amtierenden Junta um Berufssoldaten mit entsprechenden Kampferfahrungen. Dennoch muss nicht befürchtet werden, dass das gegründete Volkswohlfahrtskommittee zum jakobinischen Tribunal wird, und da auch bereits die Akzeptanz aller internationalen Verträge zugesagt wurde, sollte man davon ausgehen das dem gestürzten IBK keine Terrorherrschaft folgt. Derzeit verhandelt eine Delegation der Westafrikanischen Gemeinschaft (CEDEAO) mit den Militärs, um die Länge der Übergangsphase. Dass es generell zu einer Rückkehr zu einer zivilen Regierung durch demokratische Wahlen kommen wird, wurde bereits von beiden Seiten bestätigt. Nach der zu erwartenden Einigung wird man davon ausgehen können, dass der Transitionsprozess auch penibel von der internationalen Gebergemeinschaft überwacht wird. Mali hat schließlich eine erhebliche regionale Bedeutung als Schlüsselland im Sahel, dessen Entwicklung durch seine zentrale Lage auch den Frieden und die Stabilität der Nachbarländer beeinflusst.

Sofern eine Lehre aus diesem Militärputsch und seinem Vorlauf gezogen werden kann, so ist es die Frage, wie derartige Entwicklungen in Zukunft verhindert werden können. Der „Coup d’etat“ als ultima ratio der Staatserhaltung sollte heutzutage keinen Platz in der Völkergemeinschaft haben, nicht in Westafrika und nirgendwo anders in der Welt. Die Geschichte der letzten sieben Jahre in Mali zeigt, dass es letztlich nicht die Demokratie als solches war, die gescheitert ist, sondern dass es ihre Demontage war, die das Land an diesen Punkt führte. Demokratische Werte wie Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung und demokratische Willensbildung sind in Mali so notwendig wie eh und jeh. Nur dadurch, dass sie von oben herab ignoriert und letztlich sogar eliminiert wurden, konnte die Situation derartig eskalieren.

Alle kommenden gewählten Regierungen in Mali werden vor den enormen Herausforderungen stehen, Vertrauen in das politische System und die staatlichen Institutionen (wieder-) herzustellen; dazu die Unabhängigkeit der Justiz als Fundament des Rechtsstaats so zu festigen, dass sie von keiner Regierung mehr ausgehebelt werden kann. Parallel muss mit wirtschaftlichen Reformen der Bevölkerung eine Zukunft und besonders jungen Menschen eine Bleibeperspektive eröffnet werden. Dies wiederum erfordert reformwillige politische Entscheidungsträger, aber auch wirtschaftliche Akteure, die unternehmerische Verantwortung übernehmen und den Menschen berufliche Perspektiven eröffnen. Nur aus der langfristigen Kombination von politischen und wirtschaftlichen Reformen kann eine fortschrittliche Entwicklung abgeleitet und das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie und staatliche Institutionen wiederhergestellt werden. Es ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Lebenssituation der Menschen vor Ort langfristig verbessert.  Dies zu unterstützen wird für viele Jahre die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft bleiben.