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Der Türöffner

Wie Ijad Madisch mit seinem Start-up Researchgate die Mauern des traditionellen Wissenschaftsbetriebs einreißen will
Ijad Madisch, Gründer und CEO von Research-Gate

Ijad Madisch, Gründer und CEO von Research-Gate

© Vodafone Institut

Dieser Artikel erschien erstmals in der liberal-Ausgabe 4/2017.

Der Weg zu Ijad Madisch führt nicht einfach über den Empfangsschalter seines Unternehmens. Wer den Gründer von Berlins internationalstem Start-up treffen will, wird „zurück auf Los“ geschickt. Gleich neben der Eingangstür steht ein Tablet, auf dem sich der Besucher per App registrieren muss. Erst wenn eine Verschwiegenheitserklärung digital unterzeichnet ist, gibt die Software grünes Licht – und die freundliche Empfangsdame winkt zum Gesprächspartner durch.

Introvertierte Gründerpersönlichkeit

Mit dem Prinzip des „digitalen Neustarts“ kennt sich Madisch, der Gründer von Researchgate, bestens aus. Der 36-Jährige, dessen zurückhaltende Art in augenfälligem Kontrast zu seiner Superman-Basecap steht, gehört einer Zwischengeneration an: alt genug, um die Kindheit und Jugend in einer analog geprägten Welt zuzubringen – und noch ausreichend jung, um sich als Student von den aufkommenden digitalen Möglichkeiten begeistern zu lassen. Der Arztsohn studierte Informatik und Medizin, ging mit einem Stipendium nachHarvard, fand dort bei einem Experiment für ein Problem keine Lösung. Madisch suchte über Google und durchforstete Datenbanken. Doch bald war er vom mühsamen Klein-Klein und den mageren Resultaten genervt. Was, dachte der junge Wissenschaftler, wenn es ein Netzwerk gäbe, das das weltweit verstreute Wissen bündelt – und über das diejenigen, die es generieren, miteinander in Kontakt treten und sich austauschen können? Die Idee begann in ihm zu arbeiten: „Eigentlich habe ich mich eher als Forscher gesehen, der sich an ein Problem gewagt hat, das bisher niemand lösen konnte – und weniger als Unternehmer“, betont Ijad Madisch. Neun Jahre später sitzt er im Sweatshirt im Konferenzraum eines repräsentativen Gründerzeitbaus in Berlin-Mitte – und scheint in seiner sachorientierten, fast schüchternen Art der Rolle des Chefs von Researchgate kaum gerecht werden zu wollen.

Doch bei aller äußeren Zurückhaltung: Madisch ist äußerst zielstrebig – und durchsetzungsstark. Das bekam seinerzeit auch sein Professor zu spüren. Er brauche mehr Zeit und wolle künftig nur mehr auf einer halben Stelle arbeiten, sagte der junge Assistenzarzt zu seinem Chef. „Wofür?“, fragte dieser. Madisch erklärte ihm das Projekt eines digitalen Forschernetzwerks. „Firlefanz!“, schmetterte der Professor das Anliegen ab, Wissenschaftler nutzten keine sozialen Netzwerke. Madisch kündigte noch am selben Abend. „Heute bin ich meinem Prof sehr dankbar dafür, was er getan hat“, sagt der Entrepreneur. „Denn eigentlich hat er mir damals unterschwellig mitgeteilt: Du musst dich auf eine Sache konzentrieren.“ Madisch ging zunächst zurück in die USA und brachte 2008 mit dem Medizinerkollegen Sören Hofmayer und dem Informatiker Horst Fickenscher Researchgate an den Start. Heute arbeiten rund 300 Mitarbeiter für das Forschernetzwerk, jeden Tag melden sich 10.000 Wissenschaftler aus aller Welt neu an. Rasant wachsen auch die Inhalte: Rund zwei Millionen neue Publikationen und Datensets wurden in den ersten vier Jahren hochgeladen, mittlerweile wird dieser Wert in wenigen Wochen erreicht. Dank der gesteigerten Reichweite verdient Researchgate mit Anzeigen für Wissenschaftsjobs, Laborbedarf oder Konferenzen gutes Geld. In den nächsten zwei Jahren, so prognostiziert Madisch, wird sein Unternehmen profitabel sein. Mit seiner Idee einer Art „Facebook für Wissenschaftler“ konnte er Kapitalgeber wie etwa Bill Gates gewinnen, die alle zusammen jüngst über 50 Millionen US-Dollar an neuem Kapital in Researchgate steckten.

Kooperation statt Konkurrenz - das ist die Grundidee nach der Researchgate funktioniert

Researchgate muss wachsen, denn Größe gehört zum Geschäftsprinzip des Start-ups: Je mehr Wissenschaftler mit ihren Erkenntnissen dort präsent sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, Kollegen zu finden, mit denen sich Probleme diskutieren und Lösungswege erörtern lassen. Wie etwa bei dem Chemiestudenten von den Philippinen, der aus einem Seminar heraus eine spezielle Idee für eine Erzeugung von Biodiesel aus Ernteabfällen entwickelte. Doch weder konnte er sein Verfahren im Labor testen, noch hatte er Zugang zu Fachzeitschriften. Also postete er sein Anliegen bei Researchgate. Ein spanischer Professor antwortete wenige Stunden später. Aus dem folgenden Online-Dialog entwickelte sich ein gemeinsamer Test und eine Publikation.

Kooperation statt Konkurrenz ist die Grundidee, nach der Researchgate funktioniert. „Schizophren“ nennt der promovierte Virologe das tradierte wissenschaftliche Publikationssystem, das junge, offene, in einer vernetzten Welt aufgewachsene Wissenschaftler dazu zwinge, geheimniskrämerisch über gewonnene Erkenntnisse zu wachen. „Wenn ein Forscher einen Artikel publiziert, dann enthält der vielleicht fünf Prozent von dem, was dieser wirklich gemacht hat. Der Rest verschwindet irgendwo im Orkus“, ärgert sich Madisch.
Auf seiner Plattform sollen Wissenschaftler künftig nicht nur Ergebnisse publizieren. Das neue Researchgate-Tool „Projects“ will den gesamten wissenschaftlichen Prozess abbilden. Forscher können Rohdaten von Anfang an teilen, auch Misserfolge werden veröffentlicht – was Kollegen hilft, dieselben Fehler nicht noch einmal zu machen. Die Wissenschaft, sagt Madisch, wird dadurch wirtschaftlicher: schneller und effizienter.

Bewusst für Deutschland entschieden

Doch warum ist der Jungunternehmer aus dem Land des unternehmerischen Risikos, den USA, zurückgekommen nach Deutschland, wo die Bürokratie auch in der Wissenschaft fröhliche Auswüchse feiert? Ja, viele hätten ihm davon abgeraten, erzählt der Unternehmer. „Viele sagten: Mit Deutschen kriegst du das nicht hin. Aber ich habe das nie so gesehen.“ Er schätze speziell deutsche Eigenschaften, gepaart mit der Internationalität Berlins. „Wenn man hier sagt: Ein bestimmtes Thema muss zu einem bestimmten Zeitpunkt bearbeitet werden, dann wird das auch gemacht.“ Berlin ist für Madisch letztlich der Kristallisationspunkt, an dem deutsche Gründlichkeit, optimistischer Gründergeist und seine biografischen Erfahrungen als Einwandererkind auf ideale Weise zusammenkommen. Der „pragmatische Optimismus“, den ihm seine aus Syrien eingewanderten Eltern vorgelebt hätten, präge heute Researchgate. „Sie sind hierhergekommen, ohne die Sprache zu können und zu wissen, was sie erwartet. Und sie haben mir dennoch hier die Türen geöffnet.“ Und sie haben Madisch Neugier und Optimismus vermittelt: Eigenschaften, die Unternehmer wie auch Forscher erfolgreich machen.