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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Zeitgeschichte
Der Mord an Matthias Erzberger

Vor 100 Jahren, am 26. August 1921, wurde der mutige Zentrumspolitiker durch Rechtsradi-kale erschossen. Dies war ein schwerer Schlag gegen die Weimarer Republik.
Matthias Erzberger
Matthias Erzberger im Jahr 1920 © picture alliance / akg-images | akg-images

Matthias Erzberger gehörte zu jener Generation von hochtalentierten, ehrgeizigen Politikern, die ihren persönlichen Aufstieg im Reichstag oder in der Wirtschaft noch in der Kaiserzeit erlebten, aber erst nach dem Ersten Weltkrieg in schwerster Verantwortung für die Weimarer Republik exekutiv tätig wurden. Dazu zählen Gustav Stresemann von der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), geboren 1878, Walther Rathenau von der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), geboren 1867, und eben Matthias Erzberger vom katholischen Zentrum, geboren 1875. Zwei von ihnen wurden von Rechtsradikalen ermordet, Erzberger 1921 und Rathenau 1922. Stresemann starb im Oktober 1929 eines natürlichen Todes, aber gesundheitlich gezeichnet von den ständigen diffamierenden Anfeindungen, die durch das Trommelfeuer von rechts gegen seine Versöhnungspolitik über Jahre auf ihn niedergingen.

Alle drei wurden nach den Maßstäben ihrer Zeit zu hochprofessionellen Politikern, die auch mit der Öffentlichkeit offensiv umgingen. Dies gilt allemal für Erzberger, der 1903 im Wahlkreis Württemberg 16 (rund um Biberach) mit 28 Jahren zum jüngsten Abgeordneten im Reichstag gewählt wurde und sich sein Leben – es gab ja noch keine Diäten – mit journalistischer Tätigkeit finanzierte. Schon seine parlamentarische Karriere im Kaiserreich ist beachtlich: In der Zentrumsfraktion gehörte er eher zum linken Flügel und deckte zu Zeiten von Bülows Kanzlerschaft Kolonialskandale auf, was seiner weiteren Karriere allerdings nicht förderlich war, weil der rechte Flügel seiner Partei verärgert reagierte und es als Ergebnis der Reichstagswahl von 1907 zum sog. Bülow-Block ohne Beteiligung des Zentrums kam. Als Mitglied der Budgetkommission des Reichstags, dem damals mit Abstand wichtigsten parlamentarischen Ausschuss, erwarb er sich allerdings fraktionsübergreifend und bis tief in die Spitze der Exekutive einen untadeligen Ruf als hervorragend informierter, kompetenter Experte.

Trotz seiner kolonialkritischen Haltung vertrat er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine Politik der Stärke des Deutschen Reichs. Der Beginn des Krieges veränderte dies nicht. Erzberger blieb zunächst bei expansionistischen Kriegszielen. Erst im Laufe des Krieges kam er zu einer anderen Einschätzung – auch bedingt durch neue Einsichten im Rahmen nicht-militärischer Einsätze in der Zentralstelle für Auslandsdienst sowie eine Reihe von (durchweg erfolglosen) diplomatischen Missionen insbesondere im internationalen katholischen Milieu. Ab 1916 änderte sich dies radikal: Erzberger warnte im Reichstag nachdrücklich vor dem unbeschränkten U-Boot-Krieg und begann sich ab Ende des Jahres für einen „Verständigungsfrieden“ einzusetzen. Bahnbrechend war dabei seine Reichstagsrede vom 6. Juli 1917, der die Einrichtung eines interfraktionellen Ausschusses folgte, was heute unter Historikern als Beginn der Parlamentarisierung Deutschlands angesehen wird. Als prominentes Mitglied dieses Ausschusses spielte Erzberger bis zum Kriegsende eine bedeutende Rolle in der Meinungsbildung des Reichstags.

Es kann deshalb nicht überraschen, dass es Matthias Erzberger war, der als „Staatssekretär ohne Portfeuille“ mit Inkrafttreten der Verfassung von Oktober 1918 in eines der höchsten Ämter der entstehenden Republik aufrückte. Am 6. November 1918 schlug der Reichskanzler Prinz Max von Baden als Vertreter des Kriegskabinetts für die Verhandlungen mit den Kriegsgegnern Matthias Erzberger vor, offenbar zu dessen Überraschung. Erzberger nahm an und wurde fortan zur Verkörperung dessen, was die politische Rechte als „Erfüllungspolitiker“ bezeichnete, also jene Repräsentanten der neuen Weimarer Republik, die verantwortlich waren für den vermeintlichen „Dolchstoß“ der Heimatfront gegenüber dem unbesiegten deutschen Militär.

Im Kabinett von Gustav Bauer, sozialdemokratischer Kanzler ab dem 21. Juni 1919, übernahm Matthias Erzberger das Finanzministerium, das er kurz vor Ende des Kabinetts Bauer im März 1920 verließ, nachdem er in einem spektakulären Beleidigungsprozess gegen seinen Erzfeind Karl Helferich zwar im Kern Recht bekam, aber eine Reihe von Diffamierungen Helfferichs vom Gericht bestätigt wurden – im Nachhinein ein klassischer Fall der politischen Justiz jener Zeit, die rechtsradikale Vergehen mit großer Nachsicht ahndete. Der ehrgeizige Erzberger arbeitete bis zu seiner Ermordung an seiner Rehabilitierung und einem politischen Comeback – wohl wissend, dass er auf der Abschussliste der extremen Rechten stand. Sein vielzitierter Satz an seine Tochter Maria bezeugt dies: „Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen.“

Am 26. August 2021 war es dann so weit: Nach mehreren Mordanschlägen wurde Matthias Erzberger bei einem Spaziergang mit seinem Parteifreund Carl Diez durch mehrere Schüsse ermordet – in Bad Griesbach im Schwarzwald. Die Trauerfeier für ihn, bei der Reichskanzler (und Parteifreund) Joseph Wirth die Trauerrede hielt, wurde zur politischen Demonstration für die Republik. Am 31. August 1921 fanden reichsweit Kundgebungen in Erinnerung an Erzberger statt, die größte im Berliner Lustgarten mit einer halben Million Menschen. Wie später beim Tod Rathenaus und Stresemanns war die symbolische Bedeutung des Todes eines Spitzenpolitikers für die Republik den Bergerinnen und Bürgern voll bewusst.

Heute erinnern viele Straßennahmen in deutschen Städten an Matthias Erzberger. In Berlin trägt seit 2017 ein Gebäude des Deutschen Bundestags in der Dorotheenstadt seinen Namen. Er hat es mehr als verdient, und zwar nicht nur als Verteidiger der ersten deutschen Republik, sondern auch als ein Reichsfinanzminister, der in den wenigen Monaten seiner kurzen Amtszeit eine grundlegende Reform des deutschen Finanz- und Steuerwesens konzipiert und auf den Weg gebracht hat. Es geht um die die legendäre „Erzbergersche Reform“, die dem Deutschen Reich, dessen Finanzen traditionell von den sogenannten Matrikularbeiträgen der Länder abhingen, endlich die politisch lang erwünschte Modernisierung verpasste. Mit ihr gab es einen gewaltigen Schritt vorwärts in den Steuer- und Verwaltungsstaat der Zukunft. Die Säulen, auf die Erzberger diesen stellte, haben im Wesentlichen bis heute Bestand.

Es gibt sicherlich nur wenige Politiker in Deutschland, für die in ihrer jeweiligen fachlichen Zuständigkeit Entsprechendes behauptet werden kann. Dass dies so ist, hat natürlich seine Gründe: Matthias Erzberger tat eben nicht nur seine Pflicht, sondern er betrieb die politische Gestaltung mit einer Fachkunde und Sachkompetenz, wie man sie selten findet. Der Respekt vor seinem Lebenswerk ist und bleibt gewaltig.