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Debatte über Richterwahl
Verfassungsgericht in der Krise: Was die Debatte um Brosius-Gersdorf über unsere Demokratie verrät

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Interview mit The Pioneer zur Richter-Debatte.
Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf

Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf.

© picture alliance / Metodi Popow | M. Popow

Im Gespräch mit Alev Doğan bei The Pioneer nimmt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Stellung zur Debatte um die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts und warnt vor einer Politisierung der Richterwahl.

Alev Doğan: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben die Debatte um die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf ebenso verfolgt wie wir alle. Mich interessiert heute Morgen Ihre Einschätzung als ehemalige Justizministerin, als Juristin, aber auch als liberale politische Stimme. Hielten Sie Frau Brosius-Gersdorf eigentlich vor zwei Wochen noch für eine geeignete Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht und tun Sie das jetzt noch?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich kannte Frau Brosius-Gersdorf nicht, bevor diese Debatte begann. Ich bin ihr bisher nicht begegnet. Ich habe das wahrgenommen, was berichtet wurde und was sie in den letzten Tagen selbst gesagt hat. Ja, sie ist geeignet als Richterin am Bundesverfassungsgericht. Sie ist eine ausgewiesene Verfassungsrechtlerin. Ihr Ruf ist unter Rechtswissenschaftlern und Staatswissenschaftlern wirklich unstrittig. Auch mit ihren Positionen bewegt sie sich im Spektrum demokratischer Meinungsbildung. Ich halte sie wirklich für geeignet.

Was macht denn Ihrer Einschätzung nach eine gute Kandidatin aus? Ist es vor allem die fachliche Qualifikation, also dass sie eine exzellente Interpretin und Anwenderin des Grundgesetzes ist, oder zählt auch eine politische Mittigkeit und die Fähigkeit, für möglichst viele Positionen im Bundestag vermittelbar zu sein?

Das Letztere, also die Vermittelbarkeit und das Moderatsein in den Auffassungen, spielt nicht die entscheidende Rolle. Am Bundesverfassungsgericht ist man eine unabhängige Persönlichkeit mit fachlicher Qualifikation. Darauf kommt es an: dass die Richterinnen und Richter wirklich ihre fachliche Qualifikation haben und unabhängig sind. Verfassungskenntnisse sind selbstverständlich – ein Landwirt würde sich am Bundesverfassungsgericht nicht gut machen. Es kommt aber nicht auf Äußerungen oder politische Haltungen an, es sei denn, sie bewegen sich im Bereich extremistischen Gedankenguts, sodass Zweifel an der Einstellung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bestehen. Deshalb gab es bisher auch keinen von der AfD vorgeschlagenen Kandidaten. Die Vorstellung, dass man jemanden wählt, weil er die eigene politische Meinung vertritt und das bei möglichen Verfahren positiv wäre, ist vollkommen falsch. So eine Erwartung hat sich noch nie erfüllt.

Lassen Sie uns da mal genauer hinschauen. Sie haben eben gesagt, es gehe um Persönlichkeiten. Das heißt, Sie sehen die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht nicht als schwarz-weiße Personen ohne Meinungen, sondern als Menschen mit Facetten, die aber ein bestimmtes Renommee und vor allem eine bestimmte Kompetenz mitbringen?

Ja, das haben Sie richtig beschrieben. Jede Persönlichkeit, jede Juristin, jeder Jurist hat ihr oder sein Umfeld, sei es beruflich, wissenschaftlich oder vielleicht auch politisch. Aber das Entscheidende ist: Am Bundesverfassungsgericht hat man eine ganz andere Rolle, die nicht mehr vergleichbar ist mit wissenschaftlicher, politischer oder anwaltlicher Tätigkeit. Man ist eine oder einer von acht Richterinnen und Richtern in einem Senat, ist Berichterstatterin oder Berichterstatter und kann dann mit juristischem Florett argumentieren. Andere Argumente spielen dort keine Rolle. Es zählen die juristischen Argumente, die Auslegungen, die verfassungsrechtlichen Argumente. Politische Auffassungen haben dort als Argumentation nichts zu suchen.

Was sagen die vergangenen zwei Wochen über die Debatte aus, insbesondere die Tage seit diesem Freitag, der zu einer echten Regierungskrise geworden ist? Es wurde zwar auch über die fachlichen Kenntnisse von Frau Brosius-Gersdorf diskutiert, Stichwort Plagiatsvorwürfe, aber sehr viel drehte sich um ihre Positionierungen zum Thema Legalisierung von Abtreibungen. Das wurde ihr vorgeworfen – dass das eine zu linke, vielleicht zu progressive, auf jeden Fall für mehr als fünfzig Abgeordnete der Unionsfraktion eine nicht wählbare Positionierung im politischen Sinne sei.

Ich glaube, diese fünfzig Abgeordneten sind in ihrer Haltung vielleicht erst richtig bestärkt worden, nachdem sie gemerkt haben, was in den sozialen Medien, auf manchen Plattformen, aber auch von kirchlichen Kanzeln gesagt wird. Gerade für CDU/CSU-Abgeordnete ist das oft ein wichtiger Aspekt bei der Meinungsbildung. Natürlich kann man beim Thema Abtreibung unterschiedlicher Auffassung sein. Frau Brosius-Gersdorf vertritt meiner Meinung nach eine wirklich liberale Haltung. Das ist eine Haltung, die es immer schon in unserer Gesellschaft gab und die bei den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren sehr unterschiedlich gesehen wird. Es kommt dabei schnell zu polarisierenden und zugespitzten Begriffen, wie sie etwa ein Bischof verwendet hat. Das ist jetzt wieder in den Mittelpunkt gerückt worden, und ich halte es für falsch, diese Haltung als Ausweis einer linksradikalen Einstellung zu sehen.

Die SPD bleibt weiterhin bei dieser Kandidatin. Fraktionschef Matthias Miersch hat das Ganze eine Schmutzkampagne genannt, und Ihr Parteikollege Konstantin Kuhle hat von einer Trumpisierung unserer politischen Öffentlichkeit gesprochen. Können Sie mit diesem Begriff etwas anfangen?

Ich denke, er bringt es damit auf den Punkt, dass Stimmungen gemacht werden, wie es Populisten tun, gerade auch in politischer Verantwortung, wie Trump es vormacht. Er setzt mit seiner eigenen Social-Media-Plattform und der Macht des Amtes Dinge durch, lässt andere Meinungen nicht gelten und Kompromisse gar nicht zu. Die positive Wirkung von Kompromissen soll damit zerstört werden. Aber ohne Kompromisse geht es in der Demokratie nicht. Autoritäre Regierungen machen keine Kompromisse, sie regieren mit der Macht der Stärkeren. Das ist das Gegenteil von Demokratie. Es gibt in Deutschland nicht wenige, die das erstrebenswert finden. Das ist eine Katastrophe, und dem muss man entgegentreten. Da hat Herr Kuhle es wirklich auf den Punkt gebracht.

Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das Frau Brosius-Gersdorf hätte anders machen können oder sollen? Gibt es einen Punkt, an dem Sie sagen, sie hätte sich vielleicht anders verhalten oder zurückhaltender sein sollen, oder hat das alles nichts mit ihr zu tun?

SLS: Sie selbst hat gesagt, dass sie sich vielleicht bei dem einen oder anderen Punkt etwas anders hätte ausdrücken sollen. Ihr Auftritt bei Lanz im letzten Jahr war zu einem Zeitpunkt, als sie noch nicht auf einer Liste für das Bundesverfassungsgericht stand. Sie ist als Wissenschaftlerin an einer renommierten Universität gefragt worden. Von Wissenschaftlern erwarte ich, dass sie ihre Position mit juristischer Argumentation vertreten. Gerade beim Thema AfD-Verbotsverfahren: Ich halte davon nicht viel, aber es steht so in der Verfassung. Wenn die politischen Antragsteller – Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung – meinen, es gebe genug Material für einen Erfolg, dann ist es legitim, dass eine Wissenschaftlerin sagt, sie befürworte einen solchen Antrag. Damit hat sie noch nicht gesagt, wie die Prüfung am Ende ausgeht. Sie sagt als Juristin klar ihre Meinung. Das finde ich positiv, weil ich dieses Herumgerede und das Verwenden von Politiksprech nicht leiden kann. Die Bürgerinnen und Bürger sollen wissen, woran sie mit einer Person sind. Dass sie sich klar positioniert, macht sie in der aktuellen Debatte aber auch angreifbar.

Zum Abschluss: Wie ist diese Situation aus Ihrer Sicht noch zu retten?

Es hat sich vieles hochgeschaukelt. Ich bin der Meinung, wir brauchen jetzt erst einmal Ruhe. Es bringt nichts, jeden Tag neu zu debattieren. Ich halte auch nichts davon, sofort eine Sondersitzung zu machen. Was soll sich da verändert haben? Es braucht jetzt interne Gespräche, und Herr Merz hat dabei eine herausragende Bedeutung, nachdem Herr Spahn komplett gescheitert ist. Er hat sich im Bundestag klar für Frau Brosius-Gersdorf ausgesprochen. Ich glaube, er muss jetzt noch einmal alles tun, um zu sondieren, was noch möglich ist, und das vertrauensvoll mit den sozialdemokratischen Vertretern besprechen. Vielleicht lässt sich über die Zeit eine andere Stimmung erzeugen. Wenn sich an der Kandidatenlage nichts ändert, geht das Entscheidungsrecht an den Bundesrat über. Das ist ein letzter Mechanismus im Grundgesetz.

Dann würde also der Bundesrat entscheiden.

Ja, ob das viel leichter wäre, ist fraglich, angesichts der unterschiedlichen Koalitionen in den Ländern. Es wäre jedoch ein Armutszeugnis für den Bundestag, wenn das erstmals passieren würde.

Wir leben offenbar in einer Zeit der vielen ersten Male. Ein allgemeiner Empörungsabbau würde uns allen guttun.
Vielen Dank für Ihre Einschätzung, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, und einen guten Tag.

Ihnen auch, Frau Doğan.

 

Dieses Interview erschien erstmals am 17. Juli 2025 bei The Pioneer.