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Türkei Bulletin
Das Oppositionsbündnis: Gemeinschaft des Rings oder nicht bündnisfähig?

Türkei
© picture alliance / AA | Turkish Presidency / Murat Cetinmuhurdar / Handout

Es gibt zwei Themen, die in der Türkei derzeit heiß diskutiert werden: die Inflation und der Kandidat der Opposition für die kommenden Wahlen. Dabei ist die Diskussion über die Inflation derzeit die einfachere. Da das Land über keine glaubwürdige Geldpolitik verfügt, muss jede Lösung, unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2023 gewinnt, nach den Wahlen erfolgen. Doch je länger ein wirtschaftlicher Korrekturkurs auf sich warten lässt, desto kostspieliger wird die Lösung für die Gesellschaft.

Die Opposition, auch Sechser-Tisch genannt, besteht aus sechs Parteien von allen Seiten des politischen Spektrums, die sich zusammengeschlossen haben, um Präsident Erdoğan und seine regierende Volksallianz bei den kommenden Wahlen 2023 herauszufordern. Die pro-kurdische HDP gehört zwar nicht zum Sechser-Tisch, befindet sich aber im Oppositionsblock. Die Tatsache, dass sich der Sechser-Tisch bzw. die Opposition noch immer für keinen Präsidentschaftskandidaten entscheiden konnte, führt seit einiger Zeit zu heftigen öffentlichen Debatten.

Wie funktioniert der Sechser-Tisch?

Die Anfänge des Sechser-Tisches gehen auf das Nationen-Bündnis zurück, das vor den Wahlen 2018 zwischen der CHP, der İYİ-Partei und der Saadet-Partei gebildet wurde. Bei den Kommunalwahlen 2019 schlossen sich diese Parteien mit Unterstützung der HDP hinter den Bürgermeisterkandidaten der CHP zusammen und gewannen die Wahlen in sechs der sieben größten Städte der Türkei. Später schlossen sich die DEVA-Partei und die Zukunftspartei an und bildeten zusammen den Sechser-Tisch. Bislang hat sich das Bündnis auf die Ausarbeitung einer gemeinsamen politischen Strategie konzentriert. Demzufolge, was an die Öffentlichkeit gelangt, kommen die Partner in mehreren Politikbereichen rasch voran. In den letzten zwei Monaten scheint jedoch Uneinigkeit darüber zu herrschen, wer der Präsidentschaftskandidat des Bündnisses werden soll.

Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, hat kürzlich versucht, sich im Alleingang an die Spitze des Bündnisses zu setzen. Diese Versuche haben jedoch in den Reihen der Partnerparteien für Unmut gesorgt. Trotz der Fortschritte, die bei der Definition gemeinsamer Politikziele erzielt worden sind, scheint es derzeit Meinungsverschiedenheiten über die Kandidatenfindung zu geben. Kandidat Kılıçdaroğlu legt es offenbar darauf an, dass sich das Bündnis so rasch wie möglich auf ihn als Kandidaten festlegt. İYİ-Parteichefin Meral Akşener will hingegen durchsetzen, dass der Kandidat mit den aussichtsreichsten Wahlaussichten nominiert wird. Dazu ist  Kemal Kılıçdaroğlu bislang nicht bereit. Einerseits ist es ihm zwar gelungen, den Abstand zu Erdoğan im vergangenen Jahr deutlich zu verringern, andererseits ist sein Vorsprung für einen Wahlsieg zu gering. Es werden weitere Umfragen nötig sein, um letztendlich eine Entscheidung treffen zu können.

Auswirkungen auf die Wählerschaft

Das Gezänk in den Reihen der Opposition schadet in der Tat ihrem Ruf in der oppositionellen Wählerschaft. Seit Februar 2022 liegt das Kräfteverhältnis zwischen der Opposition (Sechser-Tisch + HDP) und dem Regierungsbündnis in glaubwürdigen Umfragen bei 60 Prozent zu 40 Prozent. Im Juni 2022 wurde die Talfahrt der AKP jedoch gestoppt. Seitdem konnten die AKP und ihr Koalitionspartner MHP durch verstärkte Ausgaben und landesweite Kundgebungen den Schaden wieder eindämmen. Dies spiegelt sich zwar nicht in den Umfragenwerten wider, aber es verringert den Eindruck, dass ein Sieg der Opposition unvermeidlich ist. Moral und Wahrnehmung spielen im Wahlkampf eine große Rolle.

Die Anziehungskraft und der Druck

Die regierende Volksallianz übt starken Druck auf ihre Wählerschaft aus. Dafür sind vor allem die schlechte Wirtschaftsführung und Misswirtschaft im Allgemeinen verantwortlich. Die Opposition hingegen schafft nicht genügend Pull-Faktoren, und die Bildung des Sechser-Tisches alleine wird nicht für den Sieg ausreichen. Der Pull-Faktor wird, wenn überhaupt, erst dann zum Tragen kommen, wenn der Oppositionskandidat und sein politisches Programm bekannt sind. Bis dahin muss der Sechser-Tisch bestehen, wenn er eine Chance auf den Sieg haben will.