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China Bulletin
Das neue Hongkong: Stadt ohne Seele

Professor Benny Tai, der Organisator der Vorwahlen

Professor Benny Tai, der Organisator der Vorwahlen.

© picture alliance/EPA-EFE | JEROME FAVRE

In Hongkong warten 47 Oppositionsmitglieder auf ihren Prozess. Für ihr „Verbrechen“, Vorwahlen organisiert zu haben, sind bis zu 15 Jahre Gefängnis möglich. Hongkong wird immer mehr von Peking geleitet. Weitere Gesetze zur nationalen Sicherheit sind geplant. Der Immobilienmarkt ist eingebrochen, der Hang Seng Index ein Schatten seiner selbst. Zahlreiche Unternehmen ziehen nach Singapur um, viele Hongkonger wandern aus.

In Japan gibt es eine berühmte Sage, die Geschichte der "47 Ronin". Die Sage beginnt mit dem erzwungenen Selbstmord eines Feudalherrn wegen der Beleidigung eines Hofbeamten. Eine Bande von 47 Samurai, die ihrem Feudalherrn treu ergeben waren, plante daraufhin, seinen Tod zu rächen. Auf merkwürdige Weise wiederholt sich diese traditionelle japanische Geschichte nun in Hongkong.

47 Oppositionsmitglieder aus dem demokratischen Lager stehen vor einem Prozess, der ihr Leben verändern wird. Die 47 wollten zwar keinen Toten rächen, aber sie wurden vor Gericht gestellt, weil sie sich für den Verlust von Freiheit und Demokratie in Hongkong rächen wollten. Ihr Verbrechen? Sie wollten die Kontrolle über den Legislativrat von Hongkong zurückgewinnen, indem sie im Juli 2020 eine Vorwahl abhielten. Eine demokratische Vorwahl, um die besten Kandidatinnen und Kandidaten für die damals anstehenden Parlamentswahlen auszuwählen. Die Vorwahlen fanden im August 2020 statt - einen Monat nach dem Peking das Nationalen Sicherheitsgesetz für Hongkong verhängte. Die Behörden behaupten nun, dass die Vorwahlen, die nach dem alten Hongkonger Rechtssystem völlig rechtmäßig und friedlich waren, nun ein Vergehen darstellen. Der Straftatbestand ist 'Subversion'. Jede Handlung, die die Staatsmacht untergräbt, gilt als Straftat. Die Definition davon, was die Staatsmacht untergräbt, ist bewusst sehr vage gewählt. Alle Handlungen, die die Möglichkeit haben, die Staatsmacht zu stören, sind nach den Gesetzen Hongkongs nun strafbar. Es spielt keine Rolle, ob es sich um eine Rede, einen friedlichen Protest oder eben um eine demokratische Vorwahl handelt.

Wie sich Hongkong verändert hat

Einigen der 47 Angeklagten müssen mit bis zu 15 Jahren Gefängnis rechnen. Zum Beispiel Professor Benny Tai, der Organisator der Vorwahlen. Professor Tai war früher einer der führenden Verfassungsrechtler in Hongkong. Er lehrte Rechtswissenschaften an der Universität von Hongkong. Professor Tai hat sich der ihm von den Behörden zur Last gelegten Straftat schuldig bekannt. Er hat sich schuldig bekannt, wohl wissend, dass der Prozess nur eine Show ist. Die Richter wurden von der Regierung Hongkongs und von Beamten aus der Volksrepublik China ausgewählt. Es gibt keine Geschworenen. Jede Hoffnung, dass die Richter in Hongkong das Gesetz milde anwenden, ist Wunschdenken.

Die politischen und juristischen Entwicklungen in Hongkong werden durch das Makroklima in Peking diktiert. Hongkong wird immer weiter in den Orbit der Volksrepublik hineingezogen, ohne jede Hoffnung darauf, wieder heraus zu kommen. Diese Entwicklung hat die soziale und wirtschaftliche Lage Hongkongs stark beeinträchtigt. Der Immobilienmarkt ist um 30 % eingebrochen, der Hang Seng Index ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Viele ausländische Unternehmen und Finanzfirmen ziehen nach Singapur um und lassen nur sehr wenige Mitarbeiter in Hongkong. Die Abwanderung von Hongkongern hält unvermindert an. Seit 2020 sind mindestens 500.000 Hongkonger in das Vereinigte Königreich, nach Kanada, Australien und in die Vereinigten Staaten gezogen. Diese Menschen waren das Rückgrat von Hongkong. Hongkong hatte nie nennenswerte natürliche Ressourcen oder Industrien, aber wir hatten eine solide Mittelschicht – Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegepersonal, Ingenieurinnen und Ingenieure, Juristinnen und Juristen und Finanzfachleute. Zusammen bildeten sie das Rückgrat der einst florierenden Wirtschaft Hongkongs. Heute schließen viele Geschäfte und Restaurants in Hongkong um 21 Uhr. Ein Aufschwung nach der COVID-Pandemie bleib aus. Die Hongkonger geben ihr Geld lieber im benachbarten Shenzhen oder in Taiwan oder Japan aus. Sie wollen nicht in einer Stadt bleiben, die keine intakte Seele mehr hat. Eine Stadt, die ihren Einwohnerinnen und Einwohnern fremd geworden ist. Diese Stadt, die früher niemals schlief, liegt nun im Dornröschenschlaf.

Selbst die Behörden in Hongkong können nicht mehr so tun, als sei alles wieder normal. Die Regierung von Hongkong hat mit Unterhaltungsangeboten versucht, Besucher zurück zu locken und das Nachtleben wieder zu beleben. Doch das war vergeblich. Die chinesische Wirtschaft befindet sich in einem strukturellen Niedergang, den die Welt seit 40 Jahren nicht mehr erlebt hat. Hongkong wird durch die fortschreitende Integration mit in diesen Strudel gezogen.

Das Nationale Sicherheitsgesetz soll weiter verschärft werden

Hongkongs Regierungschef John Lee versprach, weitere Gesetze zur nationalen Sicherheit zu erlassen, um „Schlupflöcher zu schließen“. Er will Gesetze zur Bekämpfung von Spionageaktivitäten verabschieden und Internetinhalte zensieren, welche die nationale Sicherheit gefährden. Zudem sollen ausländische Organisationen mit Verbindungen zu politischen Gruppen außerhalb Hongkongs ins Visier genommen werden. Es sieht so aus, als sollten die neuen nationalen Sicherheitsgesetze den letzten Unterschied zwischen Hongkong und dem chinesischen Festland beseitigen. Die größte Befürchtung ist, dass die Behörden einen der letzten Unterschiede zwischen Hongkong und dem Festland beseitigen werden - die chinesische Internet-Firewall. Damit wäre die Metamorphose abgeschlossen.

Einige ehemalige politische Gefangene konnten inzwischen das Gefängnis verlassen, nachdem sie ihre volle Haftstrafe verbüßt haben. Sie stehen faktisch unter Hausarrest und werden systematisch zum Schweigen gebracht. Wir wissen nicht, ob Menschen wie Professor Benny Tai oder Jimmy Lai jemals das Gefängnis verlassen können. Selbst falls sie aus dem Gefängnis entlassen werden, würden sie Hongkong verlassen dürfen? Würden sie jemals ihre Freiheit wiedererlangen?

Anonymus ist ein ehemaliger Hongkonger Abgeordneter aus dem pro-demokratischen Lager.

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