Politischer Übergang
Syrien ein Jahr nach dem Sturz von Assad: Zwischen Reform und Unsicherheit
Vor einem Jahr endete die jahrzehntelange Herrschaft des Assadregimes. Der politische Übergang hat Syrien an einen Scheideweg geführt, an dem Reformpläne auf zerstörte Infrastruktur, tiefes Misstrauen und regionale Spannungen treffen. Die ersten zwölf Monate zeigen Bewegung, aber auch den enormen Kraftaufwand, den ein umfassender Umbau von Politik, Wirtschaft und Institutionen erfordert.
Reformschritte und Fortschritte der Regierung
Die neue Regierung besetzte Schlüsselministerien mit Fachleuten, die internationale Erfahrung aus Finanz-, Infrastruktur- und Technologiebereichen einbringen. Gleichzeitig begann der Wiederaufbau administrativer Strukturen, etwa in der Zentralbank, die weitgehend neu organisiert wurde. Erste wirtschaftliche Fortschritte sind erkennbar: die Rückkehr ins SWIFT-Zahlungssystem. Außerdem wurden Investitionsprojekte im Wert von vier bis fünf Milliarden US-Dollar angekündigt, vor allem in den Energie- und Telekommunikationssektoren. Doch bisher bleiben diese Vorhaben Absichtserklärungen. Investoren zögern wegen Sanktionen und unsicherer rechtlicher Rahmenbedingungen.
Dennoch gibt es punktuelle Verbesserungen im Alltag. Die Stromproduktion erreichte 2025 landesweit etwa 2.400 Megawatt – ein Fortschritt, der jedoch nicht ausreicht. Während Aleppo und Damaskus zeitweise bis zu 20 Stunden Strom pro Tag erhielten, bleibt die Versorgung in ländlichen Gebieten deutlich schlechter. Die Weltbank prognostiziert für 2025 ein Wachstum von etwa einem Prozent – symbolisch, aber ein Hinweis auf erste Stabilisierungseffekte
Innere Konflikte und strukturelle Hürden
Der Übergang vollzieht sich unter schwierigen Bedingungen. Große Teile des Landes entziehen sich der Kontrolle der Zentralregierung. Lokale Machtzentren, die während des Krieges entstanden sind, prägen weiterhin Politik und Wirtschaft. Diese Fragmentierung erschwert den Aufbau staatlicher Autorität, behindert einheitliches Verwaltungshandeln und bremst Reformen.
In Daraa, im Südwesten und entlang wichtiger Transitkorridore dominieren Clanstrukturen und ehemalige Rebellen. Entführungen, Anschläge und Gewalt bleiben an der Tagesordnung. In Suweida, wo die drusische Minderheit lebt, herrscht weiterhin Skepsis gegenüber der neuen Regierung. Gewalteskalationen haben tiefe Gräben hinterlassen, und viele Bewohner zweifeln an der Fähigkeit der Regierung, Sicherheit zu gewährleisten.
An der Küste verschärfen Rivalitäten innerhalb alawitischer Netzwerke die Lage. Im Nordosten kontrollieren die kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) wichtige Öl- und Gasfelder sowie Verwaltungsstrukturen. Ein Abkommen zwischen Regierung und SDF wäre entscheidend, um territoriale Einheit und Energiesouveränität zu sichern. Doch neben dem innersyrischen Machtkampf lehnt die Türkei jede Stärkung der SDF ab und sieht selbst begrenzte Autonomiebestrebungen als Bedrohung.
Sicherheitspolitik und internationale Dimension
Trotz der Herausforderungen gibt es Fortschritte in der Sicherheitspolitik. Landesweite Operationen führten laut Regierung zu Festnahmen mutmaßlicher Extremisten. Die Organisation ACLED verzeichnet einen Rückgang von Anschlägen in Städten.
Ein Wendepunkt war der Besuch von Präsident al-Sharaa in Washington. Die USA intensivierten die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung, etwa durch gemeinsame Aufklärung, technische Unterstützung und koordinierte Operationen gegen ISIS-Zellen. Washington sieht in einem stabileren Syrien die Chance, grenzüberschreitende Bedrohungen einzudämmen und dadurch Israels Stabilität zu garantieren.
Ausblick: Chancen unter Druck
Ein Jahr nach dem politischen Wandel zeigen Reformen, diplomatische Öffnung und sicherheitspolitische Fortschritte, dass Syrien die Chance auf einen Neuanfang hat. Doch der Prozess bleibt fragil. Ob nachhaltiger institutioneller Wiederaufbau gelingt, hängt davon ab, ob Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche Öffnung gleichzeitig vorankommen und ob die internationale Sanktionspolitik Reformen ermöglicht.
Das Land steht an einem Punkt, an dem Fortschritte leicht zunichte gemacht werden können. Ohne Lösungen für institutionelle Glaubwürdigkeit, Investitionsschutz und territoriale Ordnung droht Syrien in einem Zustand begrenzter Stabilität zu verharren.
Deutschland kann helfen, indem es technische Expertise bereitstellt, etwa beim Aufbau staatlicher Institutionen, der Reform der Finanzverwaltung und der Schaffung verlässlicher Investitionsbedingungen. Eine abgestimmte europäische Haltung zu Sanktionen ist ebenso wichtig. Teilweise Lockerungen oder Waiver reichen nicht; es braucht einen stabilen politischen Rahmen, der Fortschritte anerkennt, ohne Sicherheitsbedenken zu ignorieren.
Syrien erlebt einen Wandel. Ob der Neuanfang gelingt, hängt davon ab, ob politischer Wille, Reformen und internationale Unterstützung zusammenfinden. Nur dann kann aus der aktuellen Öffnung eine tragfähige Zukunft entstehen.