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Wirtschaft
Wie Indien seine Wirtschaft öffnete und Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreite

Die Folgen der Wirtschaftsreformen von 1991 spürt man auch heute noch
Manmohan Singh
Manmohan Singh gilt als der Begründer der modernen indischen Volkswirtschaft. Zum Auftakt seiner Zeit als Finanzminister setzte er weitreichende Reformen durch. © picture alliance/AP Photo | Ajit Solanki

Als Barun Mitra von Kalkutta nach Delhi zog, musste er vier Jahre auf einen Telefonanschluss warten. Eine riesige Staatswirtschaft, ausufernde Regulierungen und ständiger Mangel prägten Ende der 1980er Jahre das Leben in der indischen Hauptstadtregion. "Einfach alles war knapp", erinnert sich der heute 61 Jahre alte Mitra. "Selbst wenn man sich ein Auto oder ein Moped leisten konnte, musste man Jahre darauf warten, bis man tatsächlich eines kaufen konnte."

Dahinter stand ein komplexes Bürokratie-Geflecht, dem die gesamte Wirtschaft unterworfen war. Dutzende Behörden entschieden darüber, welches Privatunternehmen welche Güter herstellen konnte – und wie hoch die Produktionskapazität zu sein hatte. "License Raj" wurde das System genannt – die Herrschaft der Lizenzen. "Die Regierung interessierte sich nur dafür, die knappen Ressourcen zu verteilen, anstatt dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft insgesamt leistungsfähiger wird", sagt Mitra, der mit dem von ihm gegründeten Liberty Institute Indiens Wirtschaftspolitik über Jahrzehnte verfolgte und kommentierte.

Eine schwere Wirtschaftskrise vor 30 Jahren brachte Indien zum Umdenken. Mit wegweisenden Reformen leitete die damalige Regierung die marktwirtschaftliche Öffnung des Landes ein. Zum Jubiläum der Liberalisierungsmaßnahmen kann das Land auf bedeutende Erfolge zurückblicken. Gleichzeitig warnen Beobachter aber auch vor Rückschritten durch neue protektionistische Tendenzen.

Den Auftakt zu Indiens wirtschaftlichem Neuanfang gab eine Rede im Sommer des Jahres 1991. Manmohan Singh, der später mit seiner Kongresspartei zum Premierminister aufstieg, war nach einem Regierungswechsel gerade erst neuer Finanzminister geworden. In seiner ersten Haushaltsrede, wenige Wochen nach Amtsantritt, zeichnete er ein düsteres Bild von der Lage des Landes: "Die Vorgängerregierung hat uns eine Volkswirtschaft in einer tiefen Krise hinterlassen", sagte er. "Wir befinden uns bereits seit Dezember am Rand des Abgrunds."

Indien stand zu dem Zeitpunkt inmitten einer schweren Zahlungsbilanzkrise – als Folge steigender Ölpreise und massiven Problemen im Außenhandel. Indiens Devisenreserven waren auf ein Volumen zusammengeschrumpft, das lediglich gereicht hätte, um die Wareneinfuhren von zwei Wochen zu finanzieren. Dem Land drohte der Bankrott, der nur mit einem Darlehen des Internationalen Währungsfonds abgewendet werden konnte – indisches Gold wurde dafür als Sicherheitsleistung nach London ausgeflogen.

Singh stellte aber von Anfang an klar, dass kurzfristige Stabilisierungsmaßnahmen nicht ausreichen werden. "Sie müssen von grundlegenden Reformen unterstützt werden, um eine neue Wachstumsdynamik in Gang zu bringen", sagte der Politiker der Kongresspartei vor dem Parlament. Die Regierung ließ den Worten Taten folgen: Das Lizenzsystem wurde für die meisten Branchen abgeschafft, was den Wettbewerb ankurbelte, Privatisierungen belebten den Ausbau der Infrastruktur und eine starke Senkung der Einfuhrzölle brachte verstärkt ausländische Technologie ins Land. Auch internationale Firmen, denen es über Jahrzehnte schwerfiel, an Betriebsgenehmigungen zu kommen, fühlten sich in dem Land zunehmend willkommen.

Singhs Reformen unter Premierminister P. V. Narasimha Rao waren zwar anfangs umstritten – mit zunehmend sichtbaren Erfolgen wuchs aber die Zustimmung: Die angefachte Konjunktur schlug sich in steigenden Haushaltseinkommen nieder. Beim Einkaufen erlebten die Inder ein Ende der Mangelwirtschaft. "Die Zeit des Schlange Stehens war vorbei", erinnert sich der frühere Liberty-Institute-Leiter Mitra, der inzwischen als unabhängiger Analyst tätig ist. Mit der wachsenden Lebensqualität seien auch die Erwartungen an die Politik gestiegen. "Zum ersten Mal begannen die Parteien, sich im Wahlkampf mit Vorschlägen für die beste Wachstumspolitik zu überbieten."

Nach der Jahrtausendwende machte dies Indien zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt, die sich jahrelang über Zuwachsraten von sieben bis acht Prozent freuen konnte. Der Aufschwung wurde zu einem der wirkungsvollsten Armutsbekämpfungsprogramme der Welt: Allein zwischen 2006 und 2016 entkamen nach Schätzungen der Vereinten Nationen fast 300 Millionen Inder der extremen Armut. Das Pro-Kopf-Einkommen des Landes vervierfachte sich inflationsbereinigt beinahe auf rund 2000 Dollar im Jahr. Die ausländischen Direktinvestitionen explodierten von lediglich 70 Millionen Dollar im Jahr 1991 auf zuletzt knapp 82 Milliarden Dollar.

Doch dem indischen Wirtschaftswunder ging in den vergangenen Jahren die Luft aus – und zwar schon vor der Corona-Krise, die das Land in die erste Rezession seit Beginn der Liberalisierungspolitik stürzte. 2019 hatte sich die Wachstumsrate auf vier Prozent abgeschwächt – der niedrigste Wert in mehr als einem Jahrzehnt. Volkswirte und Organisationen wie der Internationale Währungsfonds listeten der Regierung eine Reihe von Gründen für die Probleme auf: eine unzureichende Infrastruktur, Handelsbeschränkungen und restriktive Arbeitsgesetze gehörten dazu.

Die Regierung von Premierminister Narendra Modi konnte in diesen Bereichen kaum Fortschritte erzielen – beim Freihandel ging sie sogar in die entgegengesetzte Richtung und erhöhte in den vergangenen Jahren Einfuhrzölle im Versuch, damit die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie zu erhöhen. "Modi betont jetzt die Notwendigkeit, dass Indiens Wirtschaft eigenständig sein müsse", erklärt Mitra. "Viele Inder macht das perplex. Wir kennen den Preis, den Indien für die Abschottung vom Welthandel zahlen musste."

Aus Mitras Sicht hat die Regierung den Reformgeist von 1991 verloren. "Anstatt die Menschen und die Wirtschaft zu befreien, glaubt Modi selbst zu wissen, was für alle am Besten ist." Mit einschneidenden Eingriffen wie der Demonetisierung im Jahr 2016 habe er aber größeren Schaden als Nutzen angerichtet. Die Regierung ließ damals über Nacht einen Großteil des Bargeldvolumens für ungültig erklären, unter anderem um Schwarzgeld zu bekämpfen. Der holprige Umtausch der alten Geldscheine in neue führte jedoch zu einer monatelangen schweren Belastung für die Wirtschaft.

Als einen Grund für die seiner Meinung nach enttäuschende Reformbilanz Modis sieht Mitra den politischen Erfolg des Regierungschefs: Der Politiker konnte seine Macht bei den letzten nationalen Wahlen mit seiner Partei BJP weiter ausbauen und regiert ohne Koalitionspartner. Angesichts der schwachen Konkurrenz entfalle für ihn der Druck, spürbare wirtschaftliche Verbesserungen für die Bevölkerung zu erzielen, meint Mitra. Auf Indiens Zukunft blickt er dennoch mit Optimismus: Mitra glaubt, dass künftig der Standortwettbewerb auf Ebene der Bundesstaaten Treiber für Veränderungen sein könne. "Der Föderalismus ist Indiens Silberstreif am Horizont."