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Antisemitismus
"Die Friedenskräfte in Israel müssen gestärkt werden"

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© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Sachelle Babbar

Deutschland und Israel - eine komplexe Beziehung, geprägt von der historischen Bürde der Shoah. Ist diese Verbindung eher eine Last oder birgt sie Chancen? Der Antisemitismusforscher Professor Dr. Ulrich Sieg betrachtet das Thema differenziert und betont die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel aufgrund seiner Vergangenheit. Die deutsch-jüdische Geschichte zeigt eine wechselhafte Entwicklung, gekennzeichnet von Erfolg und Antisemitismus. Das Gespräch führte Prof. Dr. Ewald Grothe, Leiter des Archivs des Liberalismus.

Professor Dr. Ewald Grothe: Durch das Jahrhundertverbrechen der Shoah besitzt Deutschland ein ganz eigentümliches Verhältnis zum Staat Israel. Ist dies eher Bürde oder Chance?
Professor Dr. Ulrich Sieg: Jedes wichtige historische Phänomen hat verschiedene Aspekte und sollte nach Möglichkeit in seiner Vielschichtigkeit erfasst werden. Für gewöhnlich besitzen Historiker einen guten Sinn für Ambivalenzen und können geschichtliche Konstellationen gleichzeitig als Bürde wie auch als Chance erfassen. In diesem Fall scheint mir eine andere Kategorie noch wichtiger zu sein. Deutschland hat aufgrund seiner Geschichte gegenüber dem Staate Israel eine besondere Verantwortung und sollte sich dieser stets bewusst sein. Im Übrigen besitzt Deutschland gerade wegen seiner Vergangenheitspolitik beträchtliches Ansehen in der westlichen Welt – ein wertvolles „symbolisches Kapital“, das durch gedankenlose Schlussstrich-Rhetorik gefährdet wird. Dass ein umsichtiges Agieren angesichts der Situation im Vorderen Orient und angesichts der angespannten weltpolitischen Lage alles andere als einfach ist, sei ausdrücklich betont.  

Dabei kann die deutsch-jüdische Geschichte auf eine bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition zurückblicken. Zwar hat es seit dem 19. Jahrhundert einen rechtlichen und sozialen Prozess der Emanzipation und Akkulturation gegeben. Dennoch wurde die deutsch-jüdische Geschichte auch immer wieder von Antisemitismus bis hin zu Pogromen überschattet. Lassen sich die wichtigsten historischen Ursachen für den schwierigen Weg benennen?
Das lässt sich sicher tun. Die wichtigsten Antworten reichen vom christlichen Antijudaismus, über die zunehmende Bedeutung des Rassismus bis zu modernen nicht selten verschwörungstheoretisch motivierten Formen des Judenhasses. Man sollte allerdings auch andere Spezifika des historischen Phänomens zu ihrem Recht kommen lassen. Lange wurde die deutsch-jüdische Geschichte als eine besondere Erfolgsgeschichte aufgefasst. Das deutsche Kaiserreich war auch ein bewunderter Staat und die Juden waren seine erfolgreichste Minderheit, So lässt sich das deutsche Wissenschaftssystem, ohne seine kreativen jüdischen Außenseiter, aber auch seine vielen braven jüdischen Adepten nicht verstehen. Erfolg ist freilich stets auch ambivalent, ruft Neider auf den Plan und begünstigt folgenreiche Projektionen von Vorurteilen. Daneben gab es auch ein tief in der Tradition wurzelnde Geschichte antijüdischer Vorurteile. Sie ist während der Kreuzzüge mit Händen zu greifen, prägte nachhaltig die Reformation und insbesondere Luthers Haltung. Auch eine erhebliche Zahl der philosophischen Meisterdenker hegte antisemitische Ressentiments, Bei Arthur Schopenhauer waren sie vielleicht besonders ausgeprägt.    

Der Antisemitismus hatte in der Geschichte verschiedene Ausprägungen – die religiöse oder die rassistische. Wie sind die aktuellen Diskussionen um Rassismus und Antisemitismus zu beurteilen?
Wir stehen noch mitten in diesen Prozessen, und als Historiker möchte ich mich mit meinem Urteil deshalb zurückhalten. Es handelt sich dabei um Entwicklungen, die noch einen ganz unterschiedlichen Verlauf nehmen können. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob die Diskussion, wer das größte Opfer in der Menschheitsgeschichte erbracht hat, die Juden oder die Menschen des „globalen Südens“ weiterhin mit großer Entschlossenheit geführt werden wird. Man denke etwa an die die Verharmlosung des Antisemitismus, wenn „Jewfacing“ als Marotte privilegierter Weißer verspottet und im Unterschied zum „Blackfacing“ gezielt marginalisiert wird. Doch diese Diskurssituation, welche die exzeptionelle Bedeutung der Shoa negiert, muss nicht so bleiben. Ein grundlegendes epistemologisches Problem ist es gewiss, nach welchen Maßstäben über Diskriminierung entschieden werden soll, wenn jede Gruppe einen Ausnahmestatus für sich beansprucht.

31 Juli
31.07.2023 17:15 Uhr
München

Jüdisches Leben in München

Führung durch die Ohel-Jakob-Synagoge

Antisemitismus ist eine irrationale Ideologie mit enormer Aktualität. Haben sich die Rahmenbedingungen und die Ursachen dafür im 21. Jahrhundert verändert?
Das 21. Jahrhundert ist noch jung, aber schon jetzt lässt sich sagen, dass die Bedeutung der Entwicklungen im digitalen Sektor grundstürzend ist. Insbesondere die Zahl der Verschwörungstheorien hat gravierend zugenommen, und von ihnen geht für Juden spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine besondere Gefahr aus. Man denke nur an die Protokolle der Weisen von Zion, die längst als gezielte Fälschung erkannt, aber in der arabischen Welt immer noch ein Bestseller sind. Aber auch Populisten unterschiedlicher Couleur schätzten den Antisemitismus als ideologische Angriffswaffe, wie etwa bei den letzten US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen erschreckend deutlich wurde. Zur Attraktivität und leichten Verbreitbarkeit populistischer Aussagen antisemitischen Inhalts, kommt die Tatsache, dass sie nur schwer aus dem Netz zu entfernen sind, während stereotype Redewendungen, wie die vom „jüdischen Establishment“ sich selbst zu petrifizieren drohen.

Eine generelle Lösung für diese Probleme besitzen wir nicht. Dies sollte m.E. als Aufforderung verstanden werden, dem Antisemitismus mit aller Kraft entgegenzutreten. Andernfalls hat man in Kürze eine Fülle von Halbwahrheiten im Netz, die nur sehr schwer auszuräumen sind. Denn die Relevanz der von Peter Wason 1960 festgestellten „Confirmation bias“ lässt sich nicht seriös bestreiten.

Der Zionismus hat eine lange Geschichte und verfügt über eine hohe Attraktivität. Wie muss man die Wirkkraft des zionistischen Narrativs vom 19. Jahrhundert bis heute beschreiben?
Aus der Perspektive des Historikers ist die Geschichte des Zionismus vergleichsweise kurz, auch wenn der Traum von einer der Rückkehr ins gelobte Land natürlich uralt ist. Es brauchte am Ende des 19. Jahrhunderts einen immer stärker werdenden Antisemitismus und die politische Begabung Theodor Herzls, damit aus dem Zionismus eine eigenständige politische Kraft wurde. Im Ersten Weltkrieg, in der Juden gegen Juden kämpften und in ihren jeweiligen Vaterländern zurückgesetzt und diskriminiert wurden, erhielt der Zionismus einen Schub. Noch weit mehr gilt für die Zeit nach 1933, als deutlich wurde, dass die Ära deutsch-jüdischer Symbiose weitgehend ein Wunschtraum gewesen war und nicht wiederkehren würde.

Ein wichtiger Grund für den Erfolg des Zionismus besteht m.E. darin, dass er nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz des Menschen anspricht. „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“ (Theodor Herzl) ist eine verführerische Losung für Menschen, die in einer bedrückenden Situation feststecken. Sie setzt auf die Zauberformel unmittelbarer Gegenwart und legitimiert direkte Aktionen. Im heutigen Sprachgebrauch ist sie nicht weit von einer emphatischen Betonung des „Right now“ entfernt.

Hingegen scheint mir die Idee des „neuen jüdischen Menschen“, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts beträchtlicher Beliebtheit erfreute, deutlich in die Jahre gekommen zu sein. Der dahinterstehende Fortschrittsglaube hat nach einem Jahrhundert tiefgreifender Konflikte seine Überzeugungskraft verloren, und wirkt aus heutiger Perspektive fast naiv. Bis zu einem gewissen Grad gilt dies auch für die utopischen Entwürfe Herzls, in denen religiöse Konflikte keine nennenswerte Rolle spielen. Auch für „Identitätsfragen“, die in den heutigen politischen Debatten so wichtig sind, gibt Herzl wenig her. 

Die Visionen über die Existenz eines Staates Israel reichen von Theodor Herzl über David Ben Gurion bis heute. Gibt es einschneidende Zäsuren?
Vermutlich muss man konstatieren, dass die Veränderungen der Realgeschichte für die Entstehung des Staates Israel weit wichtiger sind als die – für sich natürlich durchaus interessanten – intellektuellen Entwürfe. Ich denke etwa an die Balfour Declaration, mit der 1917 deutlich wurde, dass sich Großbritannien für eine jüdische Heimstätte in Palästina einsetzt oder an die Konsequenzen des Ersten Weltkriegs. Figuren wie Martin Buber, die für das deutsche Verständnis des kulturellen Zionismus zentral sind, hatten in Jerusalem bei allem Ansehen doch politisch nur eine überschaubare Bedeutung.

Wirklich wichtig waren zudem die Teilung Palästinas 1921 bis 1923 oder der UN-Teilungsplan 1947. Eine „Stunde Null“ anzunehmen, macht jedenfalls keinen Sinn; die Herrschaft in Palästina war von Beginn an umstritten. Gravierende Folgen hatte gewiss der Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967. Er machte aus Israel „demographisch einen jüdisch-arabischen Staat“ (Wolffson/Bokovoy, S. 43). Seit dem Yom Kippur Krieg 1973, in dem der Staat Israel ums Überleben kämpfte, weiß man, dass es keine Bestandsgarantie für Eretz Israel gibt. Eroberungen und Landnahmen haben von diesem Moment an zwei offenkundige Funktionen: sie sollen Stärke demonstrieren und dem Schutz der israelischen Bevölkerung dienen. Dass sie schlicht ein Unrecht und auf lange Sicht vermutlich zukunftslos sind, dürfte nicht einfach zu bestreiten sein.  

Die Geschichte Israels schwankt zwischen Phasen der Bedrohung und solchen der Behauptung. Wie wirkt sich das stete Bedrohungsszenario auf die Selbstwahrnehmung der Israelis aus?
Das ist eine wichtige Frage, die Ihnen ein Israeli vermutlich besser beantworten kann als ich. Mir will es scheinen, als ob ich in Israel besonders viel Lebensfreude erlebt habe. Man weiß um die Fragilität des Staats und die Bedrohung der Zivilgesellschaft und feiert wohl auch deshalb die Feste, wie sie fallen. Aber natürlich verschärfen die Bedrohungsszenarien auch Ängste in der Bevölkerung, die zu vielen angespannten und aggressiven Reaktionen führen. Dabei ist zu berücksichtigen, wie tief gespalten Israel seit wenigen Jahren ist, wie schon der Blick in die Nachrichten jede Woche zeigt. Ob die jüdische Religion, in die historisch Leiderfahrungen wie der Auszug aus Ägypten eingeschrieben sind, dem ernsthaft entgegenwirken kann, ist eine offene Frage.   

Die Bevölkerung Israels ist politisch und religiös tief fragmentiert. Wo liegen dafür die Wurzeln in der Vergangenheit?
Sie haben durchaus recht mit ihrer Behauptung, dass Israel eine „politisch und religiös tief fragmentierte“ Gesellschaft ist, dennoch möchte ich mir eine Gegenfrage erlauben: Mit welcher Gesellschaft seht es eigentlich anders aus, wenn man sie genauer betrachtet.  Schaut man genauer hin, kann man doch von vielen Gesellschaften sagen, dass sie voller innerer Spannungen und Fragmentierungen sind. Und wenn dies nicht der Fall zu sein scheint, wie etwa im heutigen China, wird rasch die angenommene Homogenität zu einem gravierenden politischen Problem. Man schaue nur auf die Situation von Moslems im Reich der Mitte und ins besondere den Umgang mit den Uiguren.

Die Fragmentierung der Bevölkerung Israels lässt sich leicht durch die verschiedenen Einwanderungswellen erklären. Nach den Pogromen im Zarenreich kamen in den 1880er Jahren vor allem russische Juden, nach dem Tode Herzls wurde unter seinem Nachfolger David Wolffson Deutschland zum Zentrum eines überwiegend praktisch orientierten Zionismus. Allerdings sollte man sich von der Einwanderung nach Palästina keine übertriebenen Vorstellungen machen. Zwischen 1904 und 1914 stieg sie lediglich von 50.000 auf 80.000. Zu ihr zählte aber die später zionistische Elite mit David Ben-Gurion an der Spitze (vgl. Brenner, Geschichte des Zionismus, S. 57). Auch die dritte Alija nach dem Ersten Weltkrieg, die stark durch die Arbeiterbewegung geprägt wurde, war mit ca. 35.000 Zuwanderungen nicht sonderlich imposant.  

Entscheidend für die Geschichte Palästinas war die Zuwanderung der dreißiger Jahre, die sich nur vor dem Hintergrund der massiven Judenverfolgungen in Zentraleuropa erklärt. Nun wurde immer deutlicher, dass der Traum der Assimilation die jüdischen Probleme nicht gelöst und häufig sogar verschärft hatte. Dementsprechend gewann die zionistische Idee, die bis dato nicht selten belächelt worden war innerjüdisch eine ganz andere Akzeptanz. Die Zahl der Einwanderer nach Palästina schwoll Mitte der 1930er Jahre auf 400.000 an.

Allen Einwanderungsschüben war gemein, dass die arabische Bevölkerung weitgehend ignoriert wurde. In gewisser Hinsicht war dies eine Folge von Herzls zionistischer Ideologie, die ein „Land ohne Volk“ für ein „Volk ohne Land“ in Aussicht stellte. In jedem Fall musste das Zusammenleben von Juden und Arabern nach 1947 erst gelernt werden, war stets spannungsreich und gefährdet. Es gibt aber auch bemerkenswerte Initiativen zur Zusammenarbeit, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten.

In jedem Fall gilt es, sich der Massenflucht der Jahre 1948/49 zu stellen, als bald 800.000 arabische Palästinenser ihre Heimat verloren und in das Westjordanland oder den Gazastreifen flohen. Unrecht lässt sich zwar nachträglich nie in vollem Umfang wiedergutmachen. Doch zeigt sich in der Geschichte immer wieder, dass ein friedliches Zusammenleben nur bei einem ehrlichen Blick in den Spiegel möglich ist.

Die Fragen nach der Heimat der Palästinenser stellt sich seit langem. Ist die Zweistaatenlösung dafür – historisch und aktuell betrachtet – der richtige Schlüssel?
Wer weiß das schon so genau? Bei Problemen, die schon lange existieren, neige ich als Historiker eher zu einer skeptischen Beurteilung der Veränderungschancen. Andererseits besaß die „Zweistaatenlösung“ eine große Bedeutung für die Friedensprozess und solle nicht leichthin aufgeben werden. Ohnehin dürfte von zentraler Bedeutung sein, was die in Israel lebenden Menschen von ihr halten. Deshalb sollten wir in Europa nicht primär über Konzepte für Israel nachdenken (davon gibt es schon unendlich viele), sondern vor allem die Friedenskräfte im Land stärken. Angesichts der Polarisierung der politischen Kultur ist dies eine ausgesprochen schwierige Aufgabe, aber sie lohnt die Anstrengung.

Dem Staat Israel eine „neue Utopie“ jenseits der Zweistaatenlösung zu empfehlen, ist m. E. riskant. Zum einen haben die 15 Millionen Menschen, die dies betrifft, ganz unterschiedliche Zukunftsvorstellungen. Zum anderen prallen im Vorderen Orient unterschiedliche Kräfte aufeinander, die sich nicht mit theoretischen Vorstellungen aus der Ferne lenken oder gar beherrschen lassen. Gerade für die deutsche Politik ist es angesichts der eigenen Vergangenheit naheliegend, auf umfassende Ratschläge zu verzichten. Zudem sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass in der internationalen Politik übereilte Reformvorstellungen oft mehr Unheil anrichten als in die Jahre gekommene Sprachregelungen.

Wollen Sie darüber hinaus noch etwas sagen?
Mir ist es ein Anliegen festzustellen, dass die Antisemitismusforschung eine ausgesprochen schwierige Angelegenheit ist. In unterschiedlichen Zusammenhängen steht hinter der Chiffre „Antisemitismus“ etwas Unterschiedliches. Es braucht auch keineswegs Juden, damit es zu kulturhistorisch relevanten Formen des Antisemitismus kommt, wie etwa die englische Vergangenheit lehrt.

Jeder Wissenschaftler, der sich mit Antisemitismus auseinandersetzt, hat seinen ganz persönlichen Erfahrungshintergrund. Ich komme etwa aus dem Bereich der Ideengeschichte des 19.  und 20. Jahrhunderts und musste erkennen, wie schlüsselhaft der Antisemitismus zu ihrem Verständnis ist. „Deutscher Geist und Judenhaß“, wie Micha Brumlik dies genannt hat, ist eine besonders intensive Verknüpfung, über die es sich es sich immer wieder aufs Neue lohnt nachzudenken. Vermutlich ist es auch nicht zentral, die Frage in einem definitiven Sinne zu entscheiden, sondern es kommt eher darauf an, sie auf eine um sichtige Art offen zu halten. Andernfalls könnte es sein, dass man neuen Formen des Antisemitismus mit einem antiquierten Methodenbesteck einigermaßen hilflos gegenübersteht.

Ulrich Sieg