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Was bedeutet Ungarns "Nein" zum EuGH-Urteil?

Stimmungslage in Ländern des ehemaligen Ostblocks falsch eingeschätzt
Ungarn, Grenzzaun, Flüchtlinge

Orban bat Kommissionspräsident Juncker in einem Brief auch um Teilerstattung der Kosten für den Bau des Grenzzauns mit Serbien.

© iStock / Juanmonino

Ungarn akzeptiert das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) nicht. Demnach soll das Land sich wie die Slowakei an der Verteilung von 120.000 Flüchtlingen innerhalb der EU beteiligen. Was bedeutet Ungarns "Nein"? Die Stiftungsexperten Detmar Doering und Caroline Haury erklären die Konsequenzen gegenüber freiheit.org.

Herr Doering, Ungarn will trotz EuGH-Urteil keine Flüchtlinge aufnehmen und sogar rechtlich dagegen angehen. Wie soll das aussehen?

Das ist eine gute Frage. Die EU hat sich in den vergangenen Jahren nicht gerade bewährt, wenn es darum ging, grobe Vertragsverletzungen von Mitgliedstaaten zu sanktionieren. Man denke an den Stabilitätspakt. Aber vielleicht bieten sich hier Chancen, es besser zu machen. Ungarn braucht die EU wirtschaftlich. Es gibt eigentlich - trotz schriller Töne der Regierung - keine echte Anti-EU-Stimmung. Andererseits muss die EU auch so diplomatisch sein, dass sich die ungarische Regierung nicht gänzlich in den Bannkreis Putins und Russlands begibt. Das ist die eigentliche Gefahr im Moment, die man nicht außer Acht lassen sollte.

Wird denn in den ungarischen Medien das Gerichtsurteil und die Antwort der Regierung darauf nur einhellig aufgenommen? Oder hört man auch kontroverse liberale Stimmen? Wie reagiert die Bevölkerung?

Ich denke, die westeuropäische - und auch die deutsche - Politik hat die Stimmungslage in den meisten Ländern des ehemaligen Ostblocks fast immer falsch eingeschätzt. Diese Länder haben keine großen Erfahrungen mit Migration. Selbst in den Ländern, wo der Nationalpopulismus keinen Einfluss auf die Politik hat, ist die Skepsis in Sachen Flüchtlinge sehr groß und weit verbreitet. Deshalb setzt ja die ungarische Regierung Orbán letztlich ausschließlich auf dieses Thema, wenn sie gegen die EU agitiert.

Ungarns Außenminister sagte gar: "Die wahre Schlacht hat gerade erst begonnen". Was meint er damit, welchen Plan verfolgt Ungarn? Und wie wird dieser die Beziehungen zu Europa beeinflussen?

Eines ist klar: Die Lage eskaliert nach diesem Urteil. Andererseits kann sich Ungarn keine utimativen Erpressungen leisten, das heißt, die Drohung mit einem ungarischen Exit. Wichtig ist, dass die westeuropäische, und auch die deutsche Politik jetzt so reagiert, dass sie die Opposition nicht schwächt. Die ungarische Regierung wird die Stimmungslage bestimmt ausnutzen, um deren Spielraum noch weiter einzuschränken - und im Frühjahr nächsten Jahres sind schließlich Wahlen in Ungarn.

Frau Haury, wie wurden das Urteil und die Reaktion Ungarns derweil in Brüssel aufgenommen?

Das Urteil des EUGH stärkt die Position all derer, die sich für mehr Solidarität und Zusammenarbeit der EU-Staaten in der Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationsströme einsetzen, darunter die europäischen Liberalen. Auch die liberale Abgeordnete Cecilia Wikström, die als Berichterstatterin des Europäischen Parlaments die neue von der EU-Kommission vorgeschlagene Gesetzgebung für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem betreut, spricht sich für permanente und verpflichtende Quoten aus. Nur so könne die Überlastung eines Frontstaates verhindert und ein erneuter Zusammenbruch des gesamten Asylsystems vermieden werden.

Gleichzeitig zeigt die ungarische Reaktion auf das Urteil wie groß weiterhin die Gräben zwischen den Mitgliedsstaaten mit Blick auf eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik sind und wie unterschiedlich das Verständnis von Solidarität ist. Hier in Brüssel hatte erst vor einigen Tagen ein Brief des ungarischen Premiers Viktor Orbán für Ärger gesorgt: darin bat Orban Kommissionspräsident Juncker um Teilerstattung der Kosten für den Bau des Grenzzauns mit Serbien. Von Juncker – immerhin EVP-Kollege von Orbán – gab es daraufhin eine gepfefferte Antwort: Solidarität sei keine Einbahnstraße, schrieb Juncker und mahnte, man könne sein Mitwirken nicht à la Carte auswählen.

Dr. Detmar Doering ist Projektleiter für Mitteleuropa und die Baltische Staaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Aus Dem Stiftungsbüro in Brüssel berichtet Caroline Haury, European Affairs Manager.