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Serbien
"Saturdays for Freedom": Politik und Protest in Serbien

Bei allen Unterschieden stimmt das "Bündnis für Serbien" in einem Punkt überein: Die Kritik an der Regierung
Belgrad

Zehntausende Menschen demonstrieren den zehnten Samstag in Folge gegen Präsident Vucic. Unter dem Motto «Einer von fünf Millionen» forderten sie faire Rahmenbedingungen für Wahlen.

© picture alliance/Boris Babic/dpa

Die EU beklagt seit längerem den „Mangel an Fortschritten im Bereich der Meinungsfreiheit“ in Serbien. Im jüngsten Bericht „Freedom in the World 2019“ von Freedom House wird Serbien nur noch als „teilweise frei“ eingestuft. Doch auf dem Westbalkan-Gipfel in Berlin wurden weder Pressefreiheit noch die Demonstrationen angesprochen.

Der informelle Westbalkan-Gipfel am 29. April, zu dem die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident führende Politiker aus der Region sowie die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik nach Berlin geladen hatten, war bewusst als offener Austausch ohne Beschlussfassung angekündigt worden. Zu große Erwartungen sollten von vorneherein nicht geweckt werden.

Zwar bekräftigten Merkel und Macron unmittelbar vor dem Treffen einmal mehr die „europäische Perspektive“ dieser Länder, die strategische Bedeutung der Region für Gesamteuropa sowie das dringende Erfordernis von Stabilität. Konkret gelang es im Anschluss aber nicht, Belgrad und Pristina zur Wiederaufnahme der seit längerem unterbrochenen Verhandlungen über ein gemeinsames Abkommen zu bewegen. 

Kein Thema war allerdings ausdrücklich der Stand der Beitrittsverhandlungen oder die innen- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen in den Ländern. Der Austausch darüber wäre vermutlich ebenso ernüchternd verlaufen. Denn es hat sich gezeigt, dass die wiederholten Bekenntnisse zur „Stärkung der Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien“ einem Realitätscheck kaum standhalten. Im Gegenteil: gerade auf diesen Feldern sind die Defizite und Missstände nicht kleiner, sondern eher größer geworden. Diese und weitere negative Entwicklungen haben in Serbien eine breite Protestbewegung entstehen lassen.

Serbien von breiter Protestwelle erfasst

Seit über vier Monaten finden jeden Samstag Protestdemonstrationen statt. Engagierte Bürger, zivilgesellschaftliche Organisationen und oppositionelle Parteien haben sich zu einer breiten Bewegung zusammengefunden. Bei aller Unterschiedlichkeit in Einzelfragen stimmt dieses „Bündnis für Serbien“ mindestens in einem zentralen Punkt überein: In der Kritik einer Machtausübung, die in der Exekutive beziehungsweise in diesem Fall - verfassungswidrig - im Präsidialamt konzentriert ist, die kaum mehr der parlamentarischen Kontrolle unterliegt und zunehmend Merkmale einer „gelenkten Demokratie“ aufweist. 

Die alles bestimmende Figur in dieser Machtzusammenballung ist Präsident Alexander Vucic, der, getragen von der übermächtigen „Serbischen Fortschrittspartei“, deren Vorsitzender er ist, nahezu unangefochten die Geschicke des Landes bestimmt. 

Hintergrund war Angriff auf Oppositionspolitiker

Die Proteste hatten zunächst unter dem Motto „Schluss mit den blutverschmierten Hemden“ begonnen. Hintergrund war ein gewalttätiger – und bis heute unaufgeklärter - Angriff auf einen Oppositionspolitiker, der dabei schwer verletzt wurde. Dieser Gewaltakt wurde von Teilen der Öffentlichkeit auch als Folge einer massiven Propaganda – insbesondere von Seiten der Serbischen Fortschrittspartei und der sie unterstützenden Medien – interpretiert, die oppositionelle Parteien und Organisationen kaum mehr als Gegner, denn als Feinde wahrnehmen und bekämpfen.

Nicht zuletzt die Reaktion des serbischen Präsidenten zu Beginn der Demonstrationen im vergangenen Dezember bildete dann den Auftakt zu einer das ganze Land erfassenden Protestwelle. Denn seine Äußerung: „Auch wenn fünf Millionen auf die Straße gehen, werde ich keine Forderungen erfüllen, ihr könnt mich nur bei den Wahlen besiegen“, zeugte nicht nur von einem fragwürdigen Demokratieverständnis, es war vor allem Ausdruck einer politischen Abgehobenheit, die ihn machtpolitisch zwar bisher nicht gefährden, aber langfristig durchaus schmerzhaft auf die Füße fallen könnte. 

Die Samstagsproteste hatten dann ein neues Motto gefunden: "Einer von fünf Millionen" und gewannen erheblich an Zulauf. Die Proteste sind auch nicht mehr nur auf Belgrad beschränkt, sondern finden jede Woche in zuletzt etwa 40 Städten Serbiens statt.

Grenzen und Schwächen der Protestbewegung

Die Ausweitung der Demonstrationen kann freilich Grenzen und Schwächen dieser Protestbewegung nicht verdecken: So wird sie zwar von prominenten Persönlichkeiten unterstützt – darunter Sportler, Künstler und Universitätsprofessoren – es mangelt aber an Personen, die in der Bevölkerung Vertrauen genießen und in der Lage wären, die Forderungen und Hoffnungen machtpolitisch zu bündeln.

Die Bewegung verfügt zudem über kein parlamentarisches Standbein. Die oppositionellen Parteien sind klein, zerstritten und machtpolitisch gegenwärtig ohne Option. Hinzu kommt ihr insgesamt geringes Ansehen in weiten Teilen der Bevölkerung vor allem durch kompromittierte Ex-Politiker, die bei den Wählern verspielt haben.

Auch dass die Liste an Forderungen ständig erweitert wird, statt sich auf einige wenige – aber unstrittige – Kernforderungen zu konzentrieren, ist aus strategischer Sicht, sicher wenig zielführend. Nicht zu Ende gedacht war daher auch, einige Forderungen mit einer Frist zu versehen, wie bei den Protesten am 13. April. 

Man hatte der Regierung einen Monat Zeit gegeben, den Forderungen( Umsetzung von Meinungs- und Medienfreiheit, Pluralität, Wahlreformen, mehr Transparenz der Regierungsarbeit, Neuwahlen etc.)  nachzukommen oder zurückzutreten. Zwar kamen zu dieser beeindruckenden Großdemonstration Teilnehmer aus ganz Serbien nach Belgrad, am Ende waren aber eher Ratlosigkeit und Frustration vorherrschend, da die Regierung erwartungsgemäß keine Anstalten machte, diese Forderungen zu erfüllen.  

Eskalationen spielen Regierung in die Hände

Auch die Breite der Bewegung kann zum Problem werden, zum Beispiel wenn radikale Teile auf Eskalation setzen und dadurch die demokratischen Motive und Anliegen des Protests insgesamt beschädigen. Herausragendes Beispiel in diesem Kontext war ein Vorfall am 16. März: Einer der Oppositionsführer, Boško Obradović, Vorsitzender der kleinen rechtspopulistischen Partei Dveri, forderte die Demonstranten auf, in das Gebäude des ersten staatlichen Fernsehens RTS einzudringen, um Sendezeit zu erzwingen.

Auch wenn der Sender hinlänglich für seine regierungsfreundliche Berichterstattung bekannt ist, stieß diese Aktion innerhalb der Bewegung auf Missbilligung. Die Polizei musste eingreifen, um das Gebäude von Demonstranten zu räumen. Der Regierung spielte diese Aktion freilich in die Hände, war es doch ein weiterer Beleg für die vermeintliche Gewaltbereitschaft und Illegitimität dieser Protestbewegung, die für Serbien – so die amtliche Sicht – ohnehin nur Schaden verursacht.

Reaktionen und Gegenstrategien

Offiziell gaben sich Präsident und Regierung lange Zeit unbeeindruckt gegenüber den andauernden und wachsenden Protesten. Tatsächlich aber setzte man bereits frühzeitig auf Gegenmaßnahmen, um nichts dem Zufall zu überlassen – oder gar irgendwann unliebsam überrascht zu werden.

Bereits am 7. Februar startete die Serbische Fortschrittspartei, unterstützt von regierungsnahen Medien, eine eigene Kampagne: „Die Zukunft Serbiens“. Die Kampagne war als Rally durch das ganze Land angelegt und sollte dem Präsidenten Gelegenheit geben, seinen Landsleuten innerhalb kürzester Zeit all die Erfolge seiner Präsidentschaft und Regierung zu präsentieren.

Höhepunkt und Abschluss dieser Rally war eine Großkundgebung in Belgrad am 19. April, zu der Teilnehmer mit Bussen aus ganz Serbien angereist kamen. Dabei waren unter anderem Bürgerfahnen von Subotica bis Zubin Potok (Kosovo) zu sehen sowie aus Kumanovo (Nord Mazedonien), Trebinje (BuH), Bratunac und Vukovar (CRO). Laut Schätzungen des Innenministeriums sollen 150.000 Bürger an der Versammlung teilgenommen haben. 

Aleksandar Vučić
Der serbische Präsident Aleksandar Vučić © CC BY-SA 4.0 Wikimedia Commons/ Zoran Žestić

Druck auf Teilnehmer ausgeübt

Neben Präsident Vučić, der sich dankbar und mit eindringlichen Worten an das Publikum wandte, nahmen auch die Premierministerin Ana Brnabić, der erste stellvertretende Ministerpräsident, Außenminister und SPS-Chef Ivica Dačić, der Vorsitzende der Präsidentschaft BuH Milorad Dodik sowie der ungarische Außenminister Peter Szijjarto an der Kundgebung teil. Letzterer versicherte den Anwesenden, dass „Serbien nur mit dieser Regierung und mit Präsident Vučić auf dem richtigen Weg“ sei. 

Dass die Regierenden sich aktuell in ihrer Machtausübung nicht mal ansatzweise gefährdet sehen, kann an einer beiläufigen Episode veranschaulicht werden. Nicht zum ersten Mal wurde von Kritikern und Beobachtern der Vorwurf erhoben, es sei auf Teilnehmer der Kundgebung im Vorfeld auch erheblicher Druck ausgeübt oder auch Geld für die Teilnahme gezahlt worden. Dies wurde nicht dementiert. Man machte sich vielmehr seitens der Regierungspartei SNS in einem Kampagnen-Video auf YouTube darüber selbstironisch lustig. Es zeigte eine SNS-Parlamentsabgeordnete, die fleißig Sandwiches mit ihrem Parteikollegen schmiert und auf dessen Frage, ob es nun genug seien, antwortet: „Ja, für die ersten paar hundert Busse.“

Die Zukunft des Bürgerprotests – Die Zivilgesellschaft lebt!

Die beschriebenen Grenzen und Schwächen der Protestbewegung wären leicht um weitere ungünstige Entwicklungen und Rahmenbedingungen zu ergänzen: Wie etwa die andauernde Abwanderung junger, gut ausgebildeter Menschen in einer jährlichen Größenordnung von über 30.000, Tendenz steigend. Es würde am Ende aber nur das Erstaunen darüber verstärken, wie vor diesem Hintergrund zivilgesellschaftliches Engagement in dieser Breite sich überhaupt entfalten konnte. 

Vielleicht deutet sich in dieser – wider alle Hindernisse – entstandenen Bewegung so etwas wie ein Wendepunkt in der politischen Kultur des Landes an. So beschreibt die Historikerin Dubravka Stojanovic die Tatsache, dass die Gesellschaft sich in diesem Ausmaß überhaupt „bewegt“ habe, als das „wichtigste“ Element. Eine von der staatlichen Macht und von ihr abhängigen Medien erzeugte Kultur der Angst und Einschüchterung, die weite Teile der Gesellschaft in Apathie und Lethargie versetzt habe, sei aufgebrochen worden: „Ich verstehe dies als eine echte zivile Rebellion, und wie Umfragen zeigen, suchen die Menschen in erster Linie Freiheit, in erster Linie die Freiheit der Medien. Das ist sehr wichtig!“

Dabei glaubt Dubravka Stojanovic nicht naiv an schnelle positive politische Veränderungen, nicht zuletzt aufgrund der Schwäche der Opposition und ihrem verspielten Kredit. „Aber“, erklärt die Historikerin, „ich glaube an die Stärke der ermutigten Bürger, auch wenn dies alles schwindet und aufhört. Wenn eine Gesellschaft einmal ihre Stärke und Freiheit spürt, wird sie wieder kämpfen.“