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Russland
Russische Aktivistin Anastasia Shevchenko erhält Boris-Nemtsov-Preis 2019

Boris-Nemtsov-Preis

Die Verleihung des Boris-Nemtsov-Preises.

© Freiheit.org

Am 12. Juni, dem „Tag Russlands“, wurden in Moskau bei Demonstrationen gegen die Festnahme des investigativen Journalisten Iwan Golunow über 400 Personen festgenommen. Fast zeitgleich verliehen die Boris-Nemtsov-Stiftung für die Freiheit und die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit den 4. Boris-Nemtsov-Preis im Einsatz für ein freies und demokratisches Russland. Die diesjährige Preisträgerin Anastasia Shevchenko, die seit einem halben Jahr unter Hausarrest steht, wurde von ihrer 15-jährigen Tochter Vlada vertreten. 

In den vergangenen Tagen überschlugen sich die Nachrichten aus Russland: erst die willkürliche Festnahme des kritischen Journalisten Iwan Golonow, dann die darauffolgende Solidaritätswelle gegen seine Inhaftierung und seine plötzliche Freilassung am Dienstag, die friedlichen Protestkundgebungen sowie die Festnahme von rund 400 Demonstranten, unter ihnen auch Oppositionspolitiker Alexej Navalny. Vor diesem Hintergrund hätte die diesjährige Verleihung des Boris-Nemtsov-Preises am 12. Juni in Bonn nicht aktueller und passender sein können. Seit 2016 würdigt der Preis diejenigen, die sich unter größtem Risiko und schwierigsten Bedingungen für ein freies und demokratisches Russland einsetzen. 

Finalisten in Haft oder unter Hausarrest

Jeder einzelne der fünf Finalisten musste am eigenen Leib erfahren, wie hoch der Preis für diesen Einsatz sein kann. Drei von ihnen – Oyub Titiev, Juri Dmitriev und die Preisträgerin Anastasia Shevchenko – befinden sich zurzeit in Haft oder unter Arrest. Zwischenzeitlich kam auch der Oppositionspolitiker Alexej Navalny hinzu, der nach seiner Festnahme am 12. Juni am Abend wieder freikam. Die Preisträgerin Anastasia Shevchenko steht seit Januar 2019 unter Hausarrest, der erst vor wenigen Tagen bis mindestens September verlängert wurde. Der tschetschenische Menschenrechtsaktivist Oyub Titiev wurde im März wegen angeblichen Drogenbesitzes zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt, Ende Juni soll er voraussichtlich auf Bewährung freikommen. Juri Dmitriev sitzt mittlerweile seit 2016 aufgrund fadenscheiniger Anschuldigungen in Untersuchungshaft. Auch der fünfte Finalist und Internetaktivist Mikhail Svetov war für sein Engagement im vergangenen Jahr kurzfristig inhaftiert worden. 

In ihrem Grußwort dankte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, allen fünf Finalisten für ihren Einsatz in einem immer repressiveren Umfeld. Es sei jedoch nicht nur Aufgabe der russischen Zivilgesellschaft, eine Öffentlichkeit für die Missstände in Russland zu schaffen – es sei auch an uns, ihnen Mut zuzusprechen und ihren Stimmen in Deutschland Gehör zu verleihen. 

Preisträgerin wurde von Tochter vertreten

Die diesjährige Preisträgerin Anastasia Shevchenko ist Mitarbeiterin der Organisation „Open Russia“ und die erste Person, gegen die unter dem 2015 verabschiedeten „Gesetz gegen unerwünschte Organisationen“ ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Amnesty International bezeichnet das Verfahren als „neues Niveau der Repression“ in Russland. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu sechs Jahre Haft. Bei der Preisverleihung in Bonn wurde sie von ihrer 15-jährigen Tochter Vlada vertreten. 

In seiner Laudatio würdigte Bijan Djir-Sarai MdB, außenpolitischer Sprecher der Fraktion der Freien Demokraten im Bundestag, die Preisträgerin als „beispielhaft für eine Vielzahl an Menschen in Russland, die für ihre eigenen Rechte, aber auch für die Rechte anderer mit friedlichen Mitteln eintreten“. Er hoffe, dass die Preisverleihung nicht nur eine Würdigung ihres Einsatzes für Freiheit und Demokratie sei, sondern auch dabei helfe, dem konkreten Unrecht, das Anastasia Shevchenko widerfahre, eine Öffentlichkeit zu geben, so Djir-Sarai weiter.  

Zhanna Nemtsova, Tochter des 2015 ermordeten Boris Nemtsov und Gründerin der Boris-Nemtsov-Stiftung für die Freiheit, übergab den Preis an Shevchenkos Tochter Vlada, die sich in einer bewegenden Rede im Namen ihrer Mutter bedankte. „Meine Mutter ist stark, aber sie braucht Unterstützung. Sie möchte, dass ihre Stimme weiter erklingt und noch lauter wird, damit noch mehr Menschen sie hören können. In den vergangenen fünf Monaten bin ich zu ihrer Stimme geworden“. Seit Januar berichtet Vlada Shevchenko über soziale Medien regelmäßig über die Realität des Hausarrests. 

„Um Mamas Hausarrest zu beenden“ habe ihr siebenjähriger Bruder kürzlich entschieden, russischer Präsident werden zu wollen, erzählte Vlada Shevchenko. „Meine Mutter entgegnete, dass wir keine Präsidenten mehr wollen, sondern eine parlamentarische Republik.“

Einsatz für ein freies und demokratisches Russland

Die Szenen massiver Repression und Gewalt gegen friedliche Demonstranten, die sich in Moskau fast zeitgleich zur Preisverleihung abspielten, machen es schwer, Mut und Optimismus für ein freieres und die Menschenrechte achtendes Russland zu verspüren oder zu vermitteln. 

Es waren jedoch genau diese zwei Gefühle, die Vlada Shevchenko den Anwesenden zum Schluss dieses Abends – der mit vielen schockierenden und aufrüttelnden Schilderungen der Situation von Menschenrechtsaktivisten in Russland gefüllt war –  mit auf den Weg gab: „Eines Tages wird Russland frei sein. Im Laufe der Zeit wird es viele mutige Bürgerinnen und Bürger geben, die keine Angst haben, Verantwortung zu übernehmen, so dass ein Wandel unvermeidlich sein wird“.  Und es sind Menschen wie Anastasia Shevchenko und die anderen Finalisten, die dieser Aussage und dieser Hoffnung Nachdruck verleihen.

 

Antonia Eser-Ruperti ist Referentin für Südost- und Osteuropa der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.