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Internationale Politik
Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Nordsyrien

Wie kann der Westen helfen, ohne das Assad-Regime zu stärken?
Erdbeben Syrien

A general view of damaged buildings is seen following the earthquake in the city of Jenderes, Syria

© picture alliance / NurPhoto | Rami Alsayed

Wie sieht die Situation in Syrien aus?

Das Erdbeben in der Nähe von Gaziantep am frühen Morgen des 06. Februar 2023 brachte große Zerstörung, sowohl in der Südtürkei als auch in Nordsyrien. Noch jetzt sind Rettungskräfte im Einsatz - doch die Hoffnungen, Überlebende zu finden, schwinden angesichts der Kälte immer mehr. Mittlerweile wird von mehr als 36.000 Todesopfern in Syrien und der Türkei berichtet, mit vielen weiteren Toten ist leider zu rechnen. Der Schock sitzt tief, auch in den Nachbarländern, die das Beben und mehrere Nachbeben ebenso zu spüren bekamen. Auch im etwa 500 Kilometer entfernten Beirut, dem Sitz des FNF-Büros für Libanon und Syrien, waren insbesondere die beiden intensivsten Beben der Stärken 7,8 und 7,5 deutlich spürbar. Der Schaden im Libanon hält sich in Grenzen, wovon in der Türkei und Nordsyrien nicht die Rede sein kann.

In Syrien besonders schwer betroffen war und ist der Nordwesten, darunter die durch den Syrienkonflikt schwer beschädigten Städte Aleppo und Idlib. Während erstere unter Kontrolle des Assad-Regimes steht, ist Idlib in der Hand von Rebellengruppen. Die Ausgangssituation in der Türkei ist im Hinblick auf die Infrastruktur und die Stabilität der Bauten zwar nicht gut, jedoch bedeutend besser als in Syrien, das sich seit 2011 im Konflikt befindet. Insbesondere die Krankenhäuser befanden sich im Notbetrieb, oftmals nur noch durch Generatoren mit Elektrizität versorgt, und auch der Diesel dafür war knapp. Mangelwirtschaft und Armut bestimmten den Alltag schon vor dem Erdbeben in Nordsyrien, wo große Teile der Bevölkerung vom Assad-Regime nicht nur ausgeplündert, sondern aktiv bekämpft wurden.

Es ist wichtig, dass humanitäre Hilfe nun schnellstmöglich die betroffenen Gebiete erreicht. Doch dabei darf nicht vergessen werden, dass die Wege und Möglichkeiten selbst für diese Hilfsgüter begrenzt sind. Das hat infrastrukturelle, aber auch politische Gründe: Konnte sich der UN-Sicherheitsrat 2014 in seiner Resolution 2165 noch darauf einigen, die Grenzübergänge Bab al-Salam, Bab al-Hawa, Al Yarubiyah und Al-Ramtha zur Türkei für humanitäre Hilfslieferungen durch die Vereinten Nationen zu öffnen, blockiert Russland seit 2020 diese Möglichkeit. Nur durch zähes Ringen im Sicherheitsrat konnte erreicht werden, dass das Veto-berechtigte Russland zumindest den Grenzübergang Bab al-Hawa für Hilfslieferungen zulässt. Dieses traurige Schauspiel wiederholte sich auch zum Jahreswechsel 2023, am 9. Januar 2023 rang sich Russland erneut zu einer auf sechs Monate befristeten Verlängerung der Resolution durch. Syrien hat zwar am 14.2. angekündigt, zwei weitere Grenzübergänge für drei Monate zu öffnen, doch dies wird nur kurzfristig Entlastung bringen. Weiterhin fordern Russland und das Assad-Regime die Verteilung von Hilfsgütern durch die Regierung in Damaskus. Jüngst verlangten verschiedene Stellen, darunter Präsident Assad, aber auch ein Vertreter der staatsnahen Hilfsorganisation „Roter Halbmond“, die Sanktionen aufzuheben. Zwar haben die USA Überweisungen nach Syrien im Rahmen der Erdbebensoforthilfe erlaubt, doch weitreichende Lockerungen der Sanktionspolitik stehen bislang nicht zur Diskussion. Das ist richtig und auch Deutschland und die EU sollten sich nicht auf das Narrativ einlassen, dass eine Lockerung der Sanktionen den Menschen vor Ort wirklich helfen würde. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Vier Gründe gegen eine Lockerung der Sanktionen seitens Deutschland und der EU

Erstens haben Damaskus und seine Verbündeten, vor allem Russland und Iran, Syrien ins Chaos gestürzt. Menschen- und Kriegsrechtsverletzungen standen und stehen an der Tagesordnung. Die menschlichen, wirtschaftlichen und materiellen Verluste kümmerten das Regime in den vergangenen elf Jahren nicht. Jüngst wurde Anfang Februar 2023 die syrische Regierung durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) in einem dritten Fall für die Verwendung chemischer Waffen verantwortlich gemacht. Klar ist: Die Assad-Diktatur ist nicht an der Verringerung menschlichen Leids interessiert.

Zweitens zeigte das Damaszener Regime im Verlauf des Syrienkonflikts mehrfach, dass es Hilfsgüter missbrauchte und diese ihren Bestimmungsort teilweise nie erreichten. Auch durch Wechselkursmanipulationen versucht Assad, von den Hilfen an die Vereinten Nationen und anderer humanitärer NGOs zu profitieren. Ganz aktuell hindert die syrische Regierung zwei Hilfskonvois an der Weiterfahrt nach Aleppo. Ein Konvoi ist von der kurdischen Selbstverwaltung, einer vom kurdischen Roten Halbmond. Es handelt sich um über 30 LKW und zwei Ambulanzen. Das Regime stellt Bedingungen für die Weiterfahrt: Die Übergabe von 50 Prozent der Hilfsgüter, inklusive eines Ambulanzfahrzeugs. Das zeigt erneut, dass eine Verteilung über Damaskus dazu führen würde, dass nur ein Bruchteil der Lieferungen die Bedürftigen erreicht.

Drittens könnte eine Lieferung von Hilfsgütern an das Assad-Regime die Stellung der Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten stärken. Assad dürfte sich als Retter in der Not präsentieren und Hilfen vor allem dorthin schicken. Loyale Gebiete könnte er belohnen, einstige Hochburgen der Opposition und die bis heute von Rebellen kontrollierte Provinz Idlib bestrafen. Dass Assad und seine engsten Verbündeten Iran und Russland dazu bereit sind, zeigen nicht zuletzt die gestoppten Hilfskonvois und die Blockade der Grenzöffnungen für Nothilfe schon vor dem Erdbeben. Wer der syrischen Regierung Glauben schenkt, dass Hilfslieferungen nicht politisiert werden, der muss sich fragen, warum Damaskus diese Lieferungen monopolisieren will.

Viertens verhindern die Sanktionen der USA und der EU keine humanitären Hilfsleistungen, was die Sicherheitsrat-Resolution 2664 verdeutlicht. Der Westen ist mit Abstand der größte Geber für Syrien. Allein Deutschland stellte seit 2011 über elf Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Eine Aufhebung von Sanktionen hilft den Opfern der Katastrophe unmittelbar nicht, sondern einzig den syrischen Eliten. Zu glauben, dass Hilfe über Damaskus tatsächlich die Opfer des Erdbebens erreicht, wäre naiv.

Assad und die Katastrophenhilfe

Assad machte sich vergangenen Freitag, 10.02.2023 auf den Weg nach Aleppo und besuchte dort ein Krankenhaus — nicht ohne einen Seitenhieb auf den Westen: Dafür wurde der seit drei Monaten ruhende YouTube-Kanal des Regimes wieder aktiviert. In einem Interview vor den Ruinen Aleppos warf der Despot dem Westen eine Politisierung der Nothilfe vor. Die libanesische, Hisbollah- und Assad-nahe Zeitung al-Akhbar nannte die westlichen Staaten „kalte Ungeheuer“. Sie warf allen voran Amerika vor, Syrien zwar kurzfristig durch humanitäre Lieferung am Leben zu halten, aber gleichzeitig einem langsamen Tod zu überlassen, da der Staat durch die Sanktionen weder eine moderne Ausrüstung zur Beseitigung der Trümmer des Erdbebens (die tatsächlich nicht sanktioniert sind), noch Kraftstoffe zum Betrieb dieser erhalten könne. Die Zerstörung Syriens wird vollständig der westlichen Koalition zugeschrieben. Auf diesen Propagandatrick sollte der Westen nicht reinfallen: Einer Regierung, die sogar humanitäre Basisgüter zweckentfremdet, dürfen Sanktionen nicht erlassen werden und zu glauben, dass Assad in den Jahren des Konfliktes ohne die Sanktionen einen effektiven Zivilschutz aufgebaut hätte, entbehrt jeder Grundlage.

Wie politisch aufgeladen die Situation für Assad ist, zeigt insbesondere ein Blick auf den Twitter-Account der syrischen Regierung. Neben den Attacken gegen den Westen findet man dort auch die Danksagungen für die Kondolenzen aus verschiedenen Ländern. Unter Ihnen: Der russische Präsident Vladimir Putin, der nordkoreanische Diktator Kim Jong-Un, Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi, der belarussische Machthaber Lukashenko, der Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate, der Präsident Irans und, besonders absurd: Der „Präsident“ der von Georgien abtrünnigen und nur von fünf UN-Mitgliedern anerkannten „Republik Abchasien“, die von Russland gestützt wird. Die Mischung aus der bedingungslosen Loyalität zu Moskau, Assads panarabischen Interessen und seiner geopolitisch-religiös geprägten Verbindung zum Regime in Teheran zeigt: Es geht nicht um Hilfe für die Opfer der Erdbebenkatastrophe, sondern weiterhin um Assads Machterhalt und sein Ziel, die Kontrolle über ganz Syrien wiederzuerlangen. Denn während Assad diesen Staaten für ihre Loyalität und Anteilnahme dankt, sind es hauptsächlich westliche Staaten, die effektive Hilfe in die betroffenen Gebiete bringen. Davon ist bei Assad allerdings keine Rede.

Es ist folgerichtig, dass die EU bislang nicht auf diese Forderungen eingeht und die Bundesregierung stattdessen eine Öffnung der geschlossenen Grenzübergänge zur Türkei fordert. Auch die finanziellen Soforthilfen (25 Millionen Euro) an UNOCHA (Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) und weitere internationale Hilfsorganisationen wie die Malteser (1 Million Euro) sind wirkungsvolle Maßnahmen. Es ist wichtig, diese Hilfen weiter auszubauen. Um eine Zweckentfremdung der Mittel zu verhindern, könnte beispielsweise die Zusammenarbeit mit verlässlichen internationalen Partnern und NGOs ausgeweitet werden. Nicht zuletzt sollte Deutschland versuchen, auf diplomatischem Wege mit seinen Verbündeten eine nachhaltige Verbesserung der Situation in Syrien herbeizuführen. Eine Einlassung mit dem Assad-Regime, dem Iran oder Russland ist in diesem Zusammenhang keine Lösung.