EN

Proteste
„Belarus wird nie mehr sein wie zuvor“

Menschen legen Blumen für eine bei den Protesten getötete Person nieder
Menschen legen Blumen für eine bei den Protesten getötete Person nieder © picture alliance/dpa/TASS | Nataliya Fedosenko

Nachdem der belarusische Präsident Alexander Lukaschenko sein Wahlergebnis mit ca. 80% offenbar massiv gefälscht hat und es zahlreiche Hinweise gibt, dass die Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja die eigentliche Wahlsiegerin ist, gehen in Minsk und vielen anderen Städten die Menschen auf die Straße. Auch massive Polizeigewalt und tausende Verhaftungen können den Wunsch der Bürger nach Wandel nicht mehr eindämmen. In der zweiten Protestnacht sprachen wir am Telefon mit Igor Nikitin, dem Vorsitzenden der liberalen Jugendorganisation „Bürgerforum“.

Igor, wie erleben Sie heute die Stimmung im Land, unter Ihren Freunden, auf der Straße, in den sozialen Netzwerken, sofern Sie trotz Internet-Shutdown zu ihnen Zugang haben?

Gemessen an der Stimmung der Menschen im Land erhielt Swetlana Tichanowskaja 80 Prozent der Stimmen, nicht Lukaschenko. Sie hat tatsächlich geschafft, was den „professionellen“ Politikern, die wir die Nomenklatura-Opposition nennen, vor ihr nicht gelungen war: verschiedene soziale Schichten, Altersgruppen, Geschlechter und ideologische Segmente der Bevölkerung um eine einfache Idee zu vereinen, nämlich Alexander Lukaschenko aus dem Amt des Präsidenten zu entfernen und Neuwahlen einzufordern. Dies ist ihr großes Verdienst sowie das Verdienst von zwei anderen Kandidaten, die das Rennen leider vorzeitig verlassen haben: Viktor Babariko und Valery Tsepkalo.

So sehr wir auch glauben möchten, dass Belarus jetzt aufwacht, ist diese Euphorie jedoch verfrüht. Unsere Protestwählerschaft ist über lange Zeit „ausgewaschen“ worden: Viele haben das Land verlassen und fordern demokratischen Wandel von Polen, Tschechien oder Deutschland aus, aber nicht hier in Belarus. Bei den belarusischen Wählern vor Ort tritt das Verlangen nach Veränderung nicht so offensichtlich zutage. Man muss aber auch die objektiven Faktoren hier vor Ort in Betracht ziehen. Heute morgen konnte ich wenige Minuten über Telegram verfolgen, was passierte, das war’s. Ich konnte auf kein Nachrichtenportal zugreifen. Minsk hat sich buchstäblich in eine belagerte Stadt verwandelt. Militärische Ausrüstung wurde zusammengezogen, fast alle Spezialeinheiten der Polizei (OMON) wurden in die Hauptstadt geholt. Und so einer Konzentration von Polizei und Militär können die Bürgerinnen und Bürger nicht viel entgegensetzen.

Dennoch scheint doch die Mobilisierung der Menschen viel größer als bei früheren Wahlen, die ja auch nicht frei und fair waren und wo es auch Repressionen gegen Präsidentschaftskandidaten gab. Woher kommt diese neue Qualität?

Dahinter sehe ich einen eher banalen Grund – die Persönlichkeit der Kandidaten. Sie sind für die Menschen viel zugänglicher als frühere Kandidaten. Es gab drei Hauptkandidaten: der Ex-Banker Viktor Babariko und der Gründer eines Hi-Tech-Parks Valeriy Tsepkalo sind im Wesentlichen ehemalige Vertreter der Nomenklatura und der Wirtschaft, die entsprechende Kreise um sich vereinten. Die dritte Kandidatin war Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers Sergej Tichanowskij, der eine einfachere Wählerschaft ansprach und bodenständige Rhetorik benutzte, die auch von Swetlana Tichanowskaja übernommen wurde. Sie hat eine wunderbare Rolle gespielt, war eine nahbare Kandidatin, die jeder verstand, und dies unterschied sie im positiven Sinne von den „professionellen“ Politikern, die zuvor als alternative Kandidaten aufgetreten waren

Gibt es eine Möglichkeit für die Bürger zu beweisen, dass Swetlana als Hauptgegenkandidatin wirklich mehr Stimmen auf sich vereinen konnte?

Wir konnten etwa ein Sechstel aller Stimmenzettel im Land zu sicherstellen, das sind 1,1 bis 1,2 Millionen der 6,8 Millionen Stimmen.

Auf Vorschlag des Kampagnenteams von Viktor Babariko, der Golos-Plattform, haben die Menschen Fotos ihrer Stimmzettel auf Telegram- und Viber-Bots abgelegt und markiert, wo und für wen sie gestimmt haben. Ich selbst habe diese Plattform gestern genutzt und habe auch meinen Eltern geholfen, Fotos von ihren Stimmzetteln zu machen und sie auf diese Plattform hochzuladen. Aufgrund der Einschränkungen des Internets konnten dies nicht Wähler machen, aber wenn die Internetverbindung wiederhergestellt ist, können viele Menschen ihre Stimmabgabe nachweisen und so zeigen, wen sie in Wirklichkeit gewählt haben. Dann können wir das Ausmaß des Betrugs sichtbar machen.

Die Menschen nutzten auch andere Möglichkeiten, um zu zeigen, wem ihre Stimme galt. Viele trugen zum Beispiel weiße Bänder an den Handgelenken als Symbol für Veränderung oder falteten ihren Stimmzettel mehrfach, so dass man die Stimmen für alternative Kandidaten schon rein optisch erkennen konnte. 

Hat die Opposition einen Plan, was als nächstes zu tun ist? Ist es möglich, dass sich nach dieser starken Mobilisierung und Unzufriedenheit alles wieder beruhigt und wird "wie zuvor"?

Ich denke, dass Belarus nie mehr dasselbe Land sein wird wie zuvor. Nachdem unser demokratischer Wille skrupellos mit Füßen getreten wurde und uns vermittelt wurde, dass wir keine „mündigen Bürger“, sondern quasi Leibeigene des Regimes sind, können die Belarusen es einfach nicht mehr ertragen. Ich denke, dieses Gefühl wird noch weiter wachsen. Eine andere Frage ist, wie viele unschuldige Menschen noch ihr Leben verlieren werden, nur weil sich eine Person nicht von der Macht trennen kann.

Die Opposition ist jedoch nicht gut organisiert. Obwohl wir alle unsere alternative Kandidatin Swetlana Tichanowskaja von Herzen unterstützen, ist sie keine Politikerin. Sie ist eine starke Person, aber keine starke Führungspersönlichkeit, die sagt, was und wie es zu tun ist. Gestern habe ich zum Beispiel in Mogilev eine Situation gesehen, in der wirklich viele Menschen auf die Straße gingen. Aber sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wissen nicht einmal, wo und wann sie sich versammeln sollen, und wenn doch, wissen sie nicht, wie es dann weitergeht. Die Abwesenheit einer starken Führung führt dazu, dass sich die Kraft der Opposition zerstreut. Menschen werden nacheinander von den sogenannten Strafverfolgungsbeamten gefasst und in Polizeivans geschoben. Einen Aktionsplan gibt es leider nicht, dies verringert unsere Chancen auf Veränderung erheblich. Andererseits ist es ein gutes Zeichen für die Zukunft, dass es die Belarusen auch ohne formellen Aufruf geschafft haben, sich zu organisieren, rauszugehen und friedlich zu sagen, dass sie für einen alternativen Kandidaten gestimmt haben.

Welche Art der Unterstützung würden Sie sich in der heutigen Situation von den Ländern der Europäischen Union wünschen?

Ich unterstütze die Idee neuer Sanktionen, aber sie müssen gezielt eingesetzt werden. Ich bin kategorisch gegen umfassende Sanktionen gegen das ganze Land, weil Belarus immer noch eins der geringsten Pro-Kopf-Einkommen in Europa hat und solche Sanktionen die Notlage der einfachen Leute weiter verschärfen würden. Für mich persönlich wäre es ein Wunsch, wenn jeder Strafverfolgungsbeamte in Belarus in die Sanktionsliste aufgenommen würde, ebenso die Mitglieder der Wahlkommissionen. Das wäre am effektivsten – die Menschen zu bestrafen, die sich der Gesetzlosigkeit und Erniedrigung von Menschen schuldig gemacht haben, die nationales und internationales Rechts verletzt haben und inzwischen den Tod von drei Menschen zu verantworten haben.