EN

Die Türkei: Unbequem, kontrovers, unumgänglich

Auftakt der neuen „Weltspiegel“- Reihe im Wirtschaftsclub Düsseldorf

Gründermut in Marokko? Frauenrechte in Brasilien? Digitale Innovationen in Hongkong? Mit der neuen „Weltspiegel“- Reihe bietet die Stiftung für die Freiheit in Kooperation mit dem Wirtschaftsclub Düsseldorf exklusive Hintergrundgespräche mit einzelnen Auslands-Projektleitern der Stiftung aus aller Welt. Aus erster Hand beleuchten die Auslandsexperten die Hintergründe der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen aus den über sechzig Ländern und Regionen, in denen die Stiftung tätig ist.

Die erste Veranstaltung der Reihe fand Ende November in Düsseldorf statt. Im Fokus stand die Türkei. Unter dem Titel „Die ‘Neue Türkei‘ – Konkurrent oder schlicht Ärgernis?“ berichtete Dr. Hans-Georg Fleck, der seit 2012 das Stiftungsbüro in Istanbul leitet und als einer der renommiertesten Kenner der türkischen Politik gilt.

Am Rande der Veranstaltung sprach Dr. Fleck mit Freiheit.org.

Herr Dr. Fleck, geographisch an der Grenze zwischen Asien und Europa gelegen, verstand sich die Türkei lange als ein Bindeglied zwischen diesen beiden Welten. Doch diese Funktion ist erodiert. Immer stärkere Islamisierung, innergesellschaftlicher Polarisierung und extreme außenpolitische Instabilität – Wie kam es zu diesem dramatischen Wandel?

Die Türkei erschien lange als ein Stabilitätsfaktor am Rande einer Unruheregion des politischen, gesellschaftlichen und religiösen Umbruchs. Parallel dazu gab es aber auch Phasen innenpolitischer Instabilität in der Türkei, Militärputsche, Konfrontation mit Minderheiten und Wirtschaftskrisen. Mit den Wahlerfolgen der AKP unter Recep Tayyip Erdoğan seit 2002 gelangte die Türkei zu neuer Stabilität und ökonomischer Prosperität. Es begann eine Ära der Hoffnungen und Erwartungen von außen und innen. Man glaubte, dass die Türkei als islamische Demokratie erfolgreich sein könnte.

bild
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Doch 2013 erfolgte der Kurswechsel, aus dem Reformer Erdoğan wurde der autoritäre Herrscher. Die AKP wandte sich von Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Europa ab, die Hoffnungen wurden enttäuscht. An der Spitze der „neuen Türkei“ steht ein Mann, der den Rechtsstaat verhöhnt und große Probleme damit hat, dass Demokratie nicht nur eine Herrschaft der Mehrheit ist, sondern auch eine Staatsform, die Minderheiten akzeptiert und integriert. Dies wurde besonders bei der enormen Härte gegen die Gezi-Park-Demonstranten ab Mai 2013 deutlich.

Wie sieht die innenpolitische Lage in der Türkei heute aus?

Die Türkei befindet sich im Rückwärtsgang: Demokratie und der Rechtsstaat werden abgebaut, Bürger- und Freiheitsrechte eingeschränkt, das Land wendet sich schleichend vom Säkularismus ab. Wir befinden uns in einer Phase des islamischen Autoritarismus, wobei das Autoritäre dem Islamischen überwiegt.

Im Juli 2016 fand der jüngste Militärputsch statt, der ja sehr schnell gescheitert ist und dessen wahre Hintergründe wir wohl nie erfahren werden. Fest steht, dass die Herrschenden in der Türkei den Putsch und die Schuldzuweisung an die Gülen-Bewegung bis heute als Instrument des Autoritarismus nutzen. Viele säkulare, demokratische und liberale Menschen hatten die Gülen-Bewegung über viele Jahre sozusagen als „bösen Teil“ der AKP wahrgenommen. Heute wird die Gülen-Bewegung als terroristische Vereinigung zwischen Moon-Sekte und Scientology dargestellt. Dies hat dazu geführt, dass der Putsch, sobald man ihn als Aktion der Gülen-Bewegung erklärt hatte, vom größten Teil der Bevölkerung abgelehnt worden ist. Viele Türken haben bis heute nicht verstanden, warum die Schuldzuweisung an die Gülen-Bewegung, die die Herrschenden in der Türkei stets zu untermauern suchen, im Ausland so nicht nachvollzogen werden konnte. Man hätte erwartet, dass Angela Merkel, Barack Obama und Co. den Siegern gratuliert, und den gescheiterten Putsch als großen Sieg der türkischen Demokratie zelebriert hätten.

bild
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Für die Entwicklung der Türkei bedeutet der Putsch im Juli 2016 aber keine grundlegende Zäsur, sondern eine Beschleunigung eines Prozesses, der in den Jahren davon schon eingeleitet und manifestiert worden war. Zahlreiche Menschen wurden aus dem öffentlichen Dienst, insbesondere der Polizei und dem Justizwesen, aber auch aus den Universitäten entlassen, weil sie angeblich der Gülen-Bewegung und somit den Putschisten nahestehen. Viele Tausend Menschen sitzen seit August 2016 ohne Anklageschrift und Gerichtsverfahren in der Türkei im Gefängnis, was natürlich mit einem Rechtsstaat unvereinbar ist. Wer einmal als Anhänger der Gülen-Bewegung gebrandmarkt ist, wird weder im öffentlichen Dienst noch in der Privatwirtschaft einen Job bekommen. Daher flüchten mittlerweile auch türkische Bürger über das Mittelmeer in Richtung Europa.

Die Gülen-Bewegung gilt heute als Staatsfeind Nummer eins noch vor der kurdischen PKK. Während jeden Tag in den AKP-nahen Medien erfolgreiche Aktionen der türkischen Polizei gegen die PKK dargestellt werden, gilt die Gülen-Bewegung als der hinterhältigere Feind, der die Interessen finsterer, ausländischer Mächte vertritt. Wer genau diese sinisteren Kräfte sind, variiert. Hier steht auch Deutschland auf der Liste, insbesondere aber die USA, die in der Türkei durch alle politischen Lager sehr unbeliebt ist. Die Herrschenden in der Türkei beschwören heute eine glorifizierte osmanische Vergangenheit als positiven Gegenentwurf zum „imperialistisch-kolonialistisch-christlichen“ Westen. Man versteht sich als wirtschaftlich aufstrebendes, starkes Land, dem ein imperialistischer Feind entgegengestellt wird, der schon immer versucht hat, das Land zu schwächen. 

Ist die Einparteienherrschaft in der Türkei ohne Alternativen?

Derzeit gibt es in der Türkei vier Parteien, die dem Parlament angehören, neben der AKP die sozialdemokratische CHP und die rechte MHP, seit 2015 mit HDP auch eine kurdische Partei. Theoretisch ist es also vorstellbar, dass die Einparteienherrschaft abgelöst werden könnte, praktisch ist es aber aufgrund des politischen Systems mit seiner starken Zehn-Prozent-Hürde und schwachen Parteien nicht so einfach.

Die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie ist heute erklärtes Ziel der Regierung. Doch das Verfassungsreferendum vom April 2017, in dem es im Wesentlichen um den Übergang von parlamentarischer zu präsidentieller Demokratie ging, ist mit 51% Ja-Stimmen zu 49% Nein-Stimmen sehr knapp ausgegangen. Dass es so knapp war, war sehr überraschend und unerfreulich für Erdoğan, der das Referendum auch zur Abstimmung über seine Person gemacht hatte.

Soweit die Wahlen auch in Zukunft halbwegs demokratisch verlaufen, kann es sein, dass sich Mehrheitsverhältnisse ändern. Gerade ist mit der İyi Parti, zu Deutsch „Gute Partei“, eine neue Partei gegründet worden, von der man annimmt, dass sie Herbst 2019 bei den Parlamentswahlen die Zehn-Prozent-Hürde aus dem Stand nimmt.

Wie steht es um die türkische Außenpolitik?

Die „Neue Türkei“ mit ihrem Anknüpfen an die osmanische Tradition beansprucht eine Führungsrolle unter den muslimischen Ländern. Der frühere Sultan war ja zugleich Kalif, also Führer der islamischen Welt. Doch befindet sich das Land in einer Region wachsender Konflikte: Syrien, Kurdistan, Saudi-Arabien versus Iran, der Katar-Konflikt und der Jemen sind allesamt Pulverfässer. Gleichzeitig gehört zum Selbstverständnis des türkischen Nationalismus die enge Verbindung zu den Turkvölkern wie zum Beispiel zu Aserbaidschanern und den Uiguren in China. Und die „Neue Türkei“ sieht sich auch als globale Macht, beispielsweise werden seit Jahren massiv die türkischen Botschaften in Afrika ausgebaut.

Unter Erdoğan wendet sich das Land vom europäischen Werteensemble und der atlantischen Wertegemeinschaft ab, auch die Nato-Mitgliedschaft wird in türkischen Medien in Frage gestellt. Das Verhältnis zur USA hat sich in den letzten Jahren durch das Verhalten der USA im Syrien-Konflikt massiv verschlechtert. Hier haben die USA syrisch-kurdischen Kräfte mit Waffen unterstützt, die türkischer Sicht als verlängerter Arm der PKK gelten. Das vergiftet das Verhältnis zur USA ganz extrem.

Je mehr die Türkei in der Europäischen Familie in Ungnade fiel, umso stärker wollte man zeigen, dass man auch mit anderen Ländern kooperieren kann. Doch ist es für die Türkei unbedingt notwendig, in ein ökonomisches Netzwerk eingebunden zu sein und hier ist die EU für die türkische Wirtschaft unabkömmlich. Nach Osten ein äquivalentes Netzwerk aufbauen zu wollen, ist illusorisch: Die Art und Weise wie Russland oder China agieren, ist mit dem Charakter der EU nicht zu vergleichen. Außerdem liegen diese Staaten auch in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung weit hinter den Staaten der EU.

Was bedeuten diese Entwicklungen für die deutschen Beziehungen zur Türkei?

Für die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland sehe ich leider in absehbarer Zeit keine Verbesserungen. Sie bleibt ein unbequemer und kontroverser, aber unumgänglicher Partner. Die beiden Länder sind durch die menschlichen Verflechtungen auf eine Art und Weise verbunden, wie es sie wohl in keinem anderen Staat der Erde gibt. Daher müssen wir uns mit diesem Verhältnis auseinandersetzen. Hierzulande übt die Türkei eine enorme Soft Power aus. Beispielsweise gibt es einige bekannte Seifenopern im Fernsehen, die sich mit dem Leben großer Sultane beschäftigen und vielen türkischen Mitbürgern in Deutschland eine glorreiche osmanische Vergangenheit vorgaukeln.

Die spezifisch deutsch-türkische Komponente wird in den nächsten Jahren so wichtig wie brisant bleiben. Leider haben auch die Liberalen sich hier in den letzten Jahren oft zu wenig bemüht. Die Türkei ist mehr als das Sultanat des Herrn Erdoğan. Man kann sehr wohl eine Position haben zur Türkei des Herrn Erdoğan, aber man sollte, wenn man über die Türkei redet, nicht vergessen, dass es auch eine Türkei nach ihm geben wird.

Übrigens, wenn sich die Situation im Südosten des Landes wieder etwas beruhigt, besuchen Sie unbedingt mal die Gegend rund um den Vansee!

Die "Weltspiegel" - Reihe wird 2018 im Wirtschaftsclub Düsseldorf fortgeführt.