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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Soziale Marktwirtschaft
Republik der Retter?

Die Ordnungspolitik droht unterzugehen. Kanzler Scholz ist in der Pflicht, dies zu verhindern.
Soziale Marktwirtschaft
© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Die Deutschen sind noch immer stolz auf ihr Wirtschaftssystem, die soziale Markwirtschaft. In ihr werden die Preise im Wettbewerb gesetzt, von privaten Unternehmen. Der Staat sorgt allein für die soziale Absicherung in Notlagen.

So jedenfalls die Theorie. Die Praxis dieses Jahres sieht ein wenig anders aus. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine sorgt für explodierende Energie- und vor allem Gaspreise, die seit 2021 um das Siebenfache gestiegen sind. Es könnte sogar zu schweren Lieferengpässen kommen, wenn die großen Gashändler wegen der russischen Liefersperren derart hohe Preise am freien Gasmarkt zahlen müssten, dass sie im Extremfall Insolvenz anmelden müssen. Bei großen Energiekonzernen wie RWE und Shell ist das nicht zu befürchten, denn sie können die Verluste im Gasgeschäft aus Gewinnen in anderen Konzernbereichen auffangen. Dagegen könnte es bei Uniper, dem marktbeherrschenden Gashändler Deutschlands, sehr wohl kritisch werden. Vor allem wegen ihm führt die Bundesregierung eine Gasumlage ein, zu finanzieren durch die privaten Kunden. Skandalös ist dabei, dass nach Wirtschaftsminister Habecks Plänen wohl auch Gashändler profitieren, die gar nicht gefährdet sind. Milliarden Euro könnten so durch Mitnahme „abkassiert“ werden.

Uniper selbst beliefert mehr als 100 Stadtwerke sowie große Unternehmen. Es gilt daher als „systemrelevant“ für die flächendeckende Versorgung mit Gas. Das Unternehmen wurde 2016 aus E.ON herausgelöst und befindet sich in der Mehrheitsbeteiligung des finnischen Energiekonzerns Fortum. Dem wiederum fehlt offenbar die Kapitalstärke, um wie RWE und Shell eine Durststrecke zu überwinden. Also gewissermaßen Systemrelevanz mit Ansage – durch bewusste Wahl eines hochriskanten Geschäftsmodells. Der Staat sitzt in der Falle: als Opfer privater Kapitalinteressen wie in der Weltfinanzkrise vor fast 15 Jahren.

Dies hat soziale Folgen: Die geplante Umlage wird die privaten Gasverbraucher stark belasten. Bei einer vierköpfigen Familie kann es schon um einige Hundert Euro im Jahr gehen. Unter anderem deshalb hat Bundeskanzler Scholz Liverpools Fußballfans zitiert – mit ihrem Schlachtruf: „You never walk alone“. Also: Rettung der Verbraucher vor der Kostenlawine. Geplant ist ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent auf die Umlage, weil die eigentlich gewünschte völlige Befreiung von der Mehrwertsteuer gegen EU-Recht verstoßen würde. Und es geht weiter: Es wird wohl die Zahl der Berechtigten für das Wohngeld vergrößert und dabei Heizkosten mit veranschlagt.

Der Staat wird also massiv helfen. Und das hat er übrigens auch schon in den letzten Monaten getan! Mit dem Ersten und dem Zweiten Entlastungspaket aus dem Frühjahr 2022 wurden gewaltige Hilfsmaßnahmen auf den Weg gebracht: Die EEG-Umlage entfiel zum 1. Juli 2022, eine Entlastung von immerhin 6,6 Mrd. Euro. Im Ersten Entlastungsgesetz wurde ein einmaliger Heizkostenzuschuss beschlossen – für Bezieher von Wohngeld je nach Haushaltsgröße 270 bzw. 350 Euro. Und Arbeitsnehmerpauschbetrag, Grundfreibetrag und Kilometerpauschale wurden erhöht. Im Zweiten Entlastungsgesetz folgten als Einmalzahlungen eine Energiepreispauschale von 300 Euro für Erwerbstätige, 100 Euro als Kinderbonus, 200 Euro für Sozialleistungsempfänger und 100 Euro für Bezieher von ALG 1. Hinzu kam der temporäre Tankrabatt von fast 30 Cents pro Liter und das 9-Euro-Ticket für den Öffentlichen Personen-Nahverkehr, was beides allerdings Ende August ausläuft.

Alles in allem: eine lange Liste. Bedenkt man des Weiteren, dass Empfänger von ALG 2 („Hartz IV“) ohnehin die Heizkosten in einer „angemessenen Höhe“ ersetzt bekommen, die dem Gaspreis bzw. der Gasumlage angepasst sein wird, dann kann von einem sozial untätigen Staat überhaupt nicht die Rede sein.

Es wird höchste Zeit, den Bundeskanzler an ordnungspolitische Grundsätze zu erinnern: Ein Staat kann die Bürger nicht komplett vor allen Risiken des Marktes schützen, selbst wenn die falschen energiepolitischen Weichenstellungen der Vergangenheit voll auf das Konto früherer Regierungen gehen. Er kann Härten abfedern, aber er sollte es maßvoll tun. Dabei darf der Preisanreiz zum Energiesparen nicht völlig verloren gehen, wie er es zum Beispiel bei dem vollen Ersatz der Heizkosten bei Hartz IV-Beziehern tatsächlich tut. Wichtiger noch ist die allgemeine Botschaft: Auch in einer sozialen Marktwirtschaft bleiben ökonomische Risiken, vor denen der Staat nicht schützen kann – sonst brechen alle fiskalischen Dämme und marktwirtschaftliche Prinzipien.

Wir nähern uns diesem Bruchpunkt. Dies konnte man in einer jüngsten politischen Diskussion deutlich erkennen: um die Beseitigung der inflationsbedingten Steuererhöhung durch die kalte Progression, die der liberale Finanzminister Christian Lindner forderte. Sie hat nichts zu tun mit „Entlastung“ für Energiekosten, sondern allein mit der Vermeidung einer realen Steuererhöhung, die durch die Entwertung von Freibeträgen und das nominale Hineinwachsen von Steuerpflichtigen in höhere Progressionszonen bedingt ist – bei 8 Prozent Inflation ein gewaltiger Effekt. Lindners Vorstoß soll Steuergerechtigkeit grundsätzlich wiederherstellen, nicht ad hoc „entlasten“ – ein zutiefst berechtigtes Anliegen der Ordnungspolitik. Das ging fast unter im lauten Gezeter der vielen, die nach Entlastung riefen. Gerade hier ist der Kanzler in der Pflicht: als Verteidiger der sozialen Marktwirtschaft.        

Dieser Artikel erschien erstmals am 26. August 2022 in der WirtschaftsWoche.