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Handelsungleichheit
Marokko beschleunigt den Freihandel: werden Kleinbauern benachteiligt?

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Die Sonne steigt aus dem endlosen Himmel empor, umarmt warm die Erde und taucht die südlichen Ebenen Marokkos in goldenes Licht. Lalla Fadmas Hände bewegen sich flink zwischen den Tomatenpflanzen in der Nähe von Agadir. In nur zwei Tagen wird ihre Ernte in den Pariser Supermärkten liegen – ein Beweis für Marokkos Exportambitionen. Zu Hause jedoch teilt ihre Familie sich zum Abendessen ein Stück Brot. „Wir bauen Europas Obst an“, sagt sie mit einem schwachen Lächeln, „aber manchmal gibt es dann nur Brot zu unserem Tee.“

Unter den Nationen, die ihren Handel, ihre Investitionen und ihre wirtschaftlichen Interessen auf der globalen Bühne ausbauen wollen (Bayne & Woolcock, 2016; Van Bergeijk, 2014; Côté et al., 2020), ist Marokko mit seiner ehrgeizigen Freihandelspolitik mit Europa keine Ausnahme. Marokko spielt aufgrund seiner Lage als Brückenkopf zwischen Europa und Afrika eine zentrale Rolle. Seine Wirtschaftslandschaft wurde durch drei Jahrzehnte Handelsliberalisierung – vor allem mit seinen wirtschaftlich starken europäischen Partnern – grundlegend umgestaltet. Was in den 1990er Jahren als vorsichtige Öffnung begann, hat sich zu einer strategischen Ausrichtung auf Freihandelsabkommen (FTAs) entwickelt. Heute sind es über 54 FTAs, die Europa, Afrika und Amerika umspannen und zu einem direkten Katalysator für ausländische Investitionen und die Modernisierung der Industrie geworden sind. Diese Offenheit bleibt jedoch ein zweischneidiges Schwert: Während städtische Industriegebiete florieren, sind ländliche Gemeinden oft von wirtschaftlicher Ausgrenzung betroffen.

Eine Geschichte von ungleichem Erfolg

Marokkos Weg zu Freihandelsabkommen begann mit dem Assoziierungsabkommen mit der EU im Jahr 2000. Marokkanische Politiker bezeichneten die Liberalisierung des Handels als goldenen Schlüssel zur Modernisierung, der der Wirtschaft des Königreichs ein neues Kapitel eröffnete. Die Zahlen enttäuschten nicht: In weniger als zwei Jahrzehnten stieg der Anteil des Handels am BIP von etwa 59 % im Jahr 2000 auf etwa 79 % im Jahr 2019 (Office des Changes, 2023). Langsam aber sicher begann Marokko, sich als strategischer Automobilcluster zu positionieren, wobei das Renault-Nissan-Werk in Tanger zu einem führenden Symbol für den Erfolg der Politik der Marktöffnung wurde. Obwohl es erst seit 2012 in Betrieb ist, produziert es mittlerweile 400.000 Fahrzeuge pro Jahr und hat die Automobilausfuhren von 300 Millionen Dollar auf 14,2 Milliarden Dollar gesteigert. Auch in der Agrarindustrie waren die Ergebnisse besonders beeindruckend. Große Zitrus- und Beeren-/Rote-Früchte-Konzerne, insbesondere in der südlichen Region Souss-Massa sowie in städtischen Zentren wie Larache und Kenitra, haben den Zugang zum EU-Markt für leistungsstarke Agrarlogistikzentren genutzt, in Tröpfchenbewässerung investiert und sogar höhere Preise im Großhandel erzielt. Diese Unternehmen wurden somit zu Symbolen für den Erfolg des Freihandelsabkommens.

Doch je weiter man ins Landesinnere schaut, desto mehr schwinden diese Vorteile. Wenn man durch die Felder streift und den Blick etwas länger verweilen lässt, offenbaren sich zwei gegensätzliche Bilder. Auf der einen Seite dominieren Agrarindustriekonzerne einen Großteil der Exporte. Auf der anderen Seite stehen Kleinbauern wie Lalla Fadma (die 80 % der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte Marokkos ausmachen), die an den Rand gedrängt werden. Obwohl die kleinbäuerliche Landwirtschaft einer der wichtigsten Pfeiler der marokkanischen Wirtschaft und der ländlichen Lebensgrundlage ist, scheint sie von den Vorteilen der Handelsliberalisierung abgekoppelt zu sein. Die Kluft innerhalb des Agrarsektors selbst wird immer tiefer. Was ist also schiefgelaufen?

Die Zeit der Freihandelsabkommen

„Entwicklung kann nicht verordnet werden, sie entsteht durch ehrgeizige Politik, Investitionen in Humankapital und eine strenge Wirtschaftspolitik. Daher ist es notwendig, auf nationaler, regionaler und globaler Ebene Kräfte zu bündeln, um die Finanzierungslücke für die Entwicklung zu schließen und so zur Entstehung des Afrikas beizutragen, das wir uns wünschen.“

– Seine Majestät König Mohammed VI., Ibrahim Governance Weekend 2025

Marokkos Bekenntnis zu Freihandelsabkommen ist keineswegs zufällig. Im Gegenteil, es handelt sich um eine kalkulierte strategische Entscheidung. Diese Strategie hat einen klaren Gewinner: die Industrie. Verankert in der Wirtschaftszone Tanger Med und dank des Zugangs zum EU-Markt beschäftigt sie heute 220.000 Arbeitnehmer und generiert 22 % der Exporte. Dieser wirtschaftliche Fortschritt ist jedoch nach wie vor stark lokal begrenzt, da er sich hauptsächlich auf die Küstengebiete konzentriert und nicht gleichmäßig über das ganze Land verteilt ist. Mit anderen Worten: Auch wenn die Agrarexporte gestiegen sind, stammen sie größtenteils aus großen agroindustriellen Konzernen, die sich in bewässerten Gebieten wie Souss-Massa und Dakhla-Oued Eddahab konzentrieren. Die 1,4 Millionen Kleinbauern Marokkos leben jedoch zum Großteil in abgelegenen, bergigen oder halbtrockenen Regionen wie Béni Mellal-Khénifra oder Azilal. Da ihnen die notwendige Infrastruktur fehlt, bleiben sie daher von diesen Exportkreisläufen ausgeschlossen. Dabei handelt es sich nicht nur um vorübergehende Probleme, sondern um strukturelle Ausgrenzungen. So sind beispielsweise drei Viertel der marokkanischen landwirtschaftlichen Betriebe kleiner als 5 Hektar, was Skaleneffekte nahezu unmöglich macht. Andererseits haben laut Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen nur 12 % der Kleinbauern Zugang zu Kühltransporten, was zu Nachernteverlusten von bis zu 30 % führt.

All diese geografische Konzentration der Handelsvorteile wird auch durch empirische Modellrechnungen bestätigt. Tatsächlich kommt die räumliche Gravitationsanalyse von Bouya und Lechheb aus dem Jahr 2024 zu dem Ergebnis, dass die Handelsströme Marokkos nur eine moderate räumliche Autokorrelation aufweisen, was bedeutet, dass die geografische Lage allein nicht über den Handelserfolg entscheidet. Auch wenn ländliche Gebiete physisch nah an den Märkten liegen, profitieren sie dennoch nicht davon. Der Handelserfolg hängt nicht nur davon ab, wo man sich befindet, sondern auch davon, welche Infrastruktur vorhanden ist. Mit anderen Worten: Diese infrastrukturellen Variablen (Logistikkorridore, Exportfinanzierung usw.) spielen eine stärkere Rolle bei der Entscheidung, wer von Freihandelsabkommen profitiert.

Lehren aus dem Zusammenbruch der Textilindustrie

Auch wenn dies hier nicht im Mittelpunkt steht, bietet der Textilsektor Marokkos ein kurzes, aber anschauliches Beispiel dafür, was passieren kann, wenn Handelsliberalisierung nicht mit entsprechenden Vorbereitungen einhergeht. Mit anderen Worten: wenn sie nicht mit nachhaltigen Investitionen in moderne Technologien, unterstützende Infrastruktur, Sensibilisierung und sektorspezifische Reformen einhergeht. All dies geschah im Zusammenhang mit dem Freihandelsabkommen, das Marokko 2006 mit der Türkei unterzeichnete. Was als vielversprechende Handelspartnerschaft begann, entwickelte sich zu einer Herausforderung. Marokkanische Produzenten profitierten zunächst vom bevorzugten Zugang zu den türkischen Märkten. Doch bis 2010 kam es zu einem raschen und schmerzhaften Einbruch.

Warum? Das Problem war die Produktivität. Oder besser gesagt, die fragile lokale Wettbewerbsfähigkeit der marokkanischen Produzenten in einer Situation, in der sie direkt starker ausländischer Konkurrenz ausgesetzt waren. Tatsächlich erhielten türkische Textilunternehmen im Rahmen des Freihandelsabkommens breiten Zugang zum marokkanischen Markt und versorgten diesen mit besserer Technologie und ebenso hoher Effizienz. Marokkanische Unternehmen, die auf ihrem eigenen Terrain konkurrierten, konnten sich gegen die ausländische Konkurrenz nicht durchsetzen. Infolgedessen sank die Beschäftigung in der marokkanischen Textilindustrie von rund 200 000 im Jahr 2010 auf etwa 140 000 im Jahr 2023 (Ait Ali, 2023).

Auch hier ist der Freihandel an sich nicht der Bösewicht. Vielmehr hat er die aufgelaufenen strukturellen Schwächen offenbart. Anders ausgedrückt: Es reicht nicht aus, einfach nur Abkommen zu unterzeichnen. Ohne eine Verbesserung der lokalen Kapazitäten setzen Freihandelsabkommen Unternehmen einem brutalen Wettbewerb aus und können schwache Branchen von innen heraus untergraben.

Was wird getan und was fehlt noch?

Der globale Handel befindet sich heute mehr denn je in einem sich ständig verändernden Umfeld, dessen Volatilität besonders spürbar ist. Zahlreiche Fälle haben die Risiken einer übermäßigen Abhängigkeit, insbesondere von importierten Gütern, deutlich gemacht. Im Falle Marokkos absorbiert die Eurozone nach wie vor 68 % der Exporte. Wie bereits erwähnt, sind die Freihandelsabkommen nicht das Problem, da sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Vielmehr war es das Fehlen einer integrativen nationalen Politik, die sie begleitet hätte, das die regionalen Unterschiede vergrößert statt verringert hat.

Parallel dazu sendet Marokko durch seine strategische Lage als Brücke zu Afrika und die Ratifizierung des Afrikanischen Kontinentalen Freihandelsabkommens (AfCFTA) ein starkes Signal für sein Bestreben, die Süd-Süd-Beziehungen zu vertiefen und damit die Abhängigkeit vom EU-Markt zu verringern. All diese Vorteile lassen das Potenzial des marokkanischen Handelsmodells erkennen. Die marokkanische Regierung hat bereits wichtige Initiativen auf den Weg gebracht. So wurde beispielsweise der Plan „Generation Green“ (2020-2030) als Nachfolger des Plans „Maroc Vert“ ins Leben gerufen, der neben der Förderung der Exporte auch die Stärkung der Jugend und der Kleinbauern zum Ziel hat. Darüber hinaus fördern Programme wie „Al Moutmir“ eine nachhaltige Landwirtschaft und den Zugang zu Technologie. Was hier noch fehlt, ist der Aspekt des inklusiven Handels. Der Fokus liegt eindeutig auf den Häfen und nicht auf den Binnenregionen. Außerdem nutzen trotz über 50 Freihandelsabkommen nur 37 % der berechtigten marokkanischen Unternehmen diese aktiv, was vor allem auf bürokratische und logistische Komplexität zurückzuführen ist (OECD, 2022).

Um diese Lücke zu schließen, könnte zunächst daran gearbeitet werden, die Handelsregulierung zu vereinfachen, zu zentralisieren und überhaupt erst einmal zugänglicher zu machen. Alles beginnt mit Verständnis und Bewusstsein. Anstelle von Subventionsprogrammen kann die gezielte Hilfe und Unterstützung von Kleinbauern viel bewirken. Die unmittelbare Priorität liegt in Investitionen in eine angemessene Infrastruktur. Nicht in abstrakter Form, sondern in Form von Kühlketten (oder temperaturkontrollierten Lieferketten), die die Waren vom Produktionsort bis zum Endverbraucher auf einer sicheren Temperatur halten. Damit wird das zuvor erwähnte Problem der Nachernteverluste direkt angegangen. Als Nächstes würde die Verbesserung der Zufahrtsstraßen in ausgewählten Provinzen wie Azilal oder Béni Mellal-Khénifra die sichere Ankunft der Waren an den etablierten Sammelstellen und ihren reibungslosen Fluss in die internationalen Exportlieferketten verbessern. Gute Zufahrtsstraßen bedeuten in der Tat kürzere Transportzeiten, Kostenvorteile und weniger Schäden an den Produkten. Im Rahmen der AfCFTA könnte Marokko gemeinsam mit Partnerländern in solche Infrastrukturen investieren, um die regionale Anbindung zu verbessern und den panafrikanischen Handel zu erleichtern. Nichts davon ist revolutionär, doch die Auswirkungen werden mit Sicherheit die Erwartungen übertreffen.


Die Kinder von Lalla Fadma besuchen nun eine Schule, die mit den Einnahmen aus dem Tomatenexport gebaut wurde. Ein kleines Zeichen des Fortschritts. Ihre Geschichte verdeutlicht das nächste Kapitel im Handel Marokkos: eine Erfolgsgeschichte in Sachen Handel. Die Nutzung von Freihandelsabkommen erfordert nicht nur Unterschriften, sondern eine einheitliche Vision, die Küste und Hinterland, Landwirtschaft und Industrie, Politik und Bevölkerung mit dem entsprechenden politischen Willen und Investitionen in die notwendige Infrastruktur verbindet.

Diese Veröffentlichung ist Teil der Reihe „Youth Task Force Analysts“. Dieses Programm bietet jungen marokkanischen Forschern und Akteuren der Zivilgesellschaft eine Plattform, um ihre Meinungen und Analysen zu aktuellen Themen aus Politik, Wirtschaft und Kultur in Marokko auszutauschen.
 

QUELLENANGABEN:

  1. Ait Ali, A. (2023). Industriepolitik und Exportleistung: Der Fall Marokko (Economic Research Forum Working Paper Nr. 1567).
     
  2. Bouya, H., & Lechheb, H. (2024). Gravitationsdynamik des Handels: Eine Untersuchung der Wirtschaftsdiplomatie Marokkos in Afrika. Review of Economics and Finance, 22, 189–198.
     
  3. Haut-Commissariat au Plan (HCP). (2022). Enquête sur la pauvreté multidimensionnelle. Royaume du Maroc.
     
  4. Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. (2021). Nachernteverluste in Marokko.
     
  5. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. (2022). Handelserleichterungen und Ursprungsregeln in Marokko. OECD Publishing.
     
  6. Office des Changes. (2023). Jahresbericht über den Außenhandel 2023.
     
  7. Weltbank. (2022). Armutsbewertung in Marokko: Stärkung der Inklusion.
     
  8. Internationale Arbeitsorganisation. (2023). Handelsanpassungsprogramme in Chile und Mexiko: Vergleichende Bewertung.
     
  9. Afrikanische Entwicklungsbank. (2023). Makroökonomische Entwicklung und Aussichten für Afrika.
     
  10. Ministerium für Industrie und Handel (Marokko). (2023). Nationale Exportstrategie 2030.
     
  11. Europäische Kommission. (2020). Bericht über die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Marokko. GD Handel.
     
  12. Welthandelsorganisation. (2020). Marokkos Agrarhandelspolitik: Eine Green-Box-Analyse.
     
  13. Marokkanische Agentur für Investitionen und Exportförderung (AMDIE). (2024). Umfrage zur Exportbereitschaft von KMU.
     
  14. Agénor, P.-R., & El Aynaoui, K. (2015). Marokko: Wachstumsstrategie für 2025 in einem sich wandelnden internationalen Umfeld. Rabat: OCP Policy Center.