Marokko
GenZ-Proteste in Marokko: Countdown zur Fußball-WM oder zum Regierungswechsel?
Jugendliche nehmen an einer Protestaktion teil, bei der sie Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen fordern, in Rabat.
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | STRIn Marokko eskalieren die landesweiten Proteste der „GenZ“. Junge Menschen fordern statt Stadien für die Fußball-WM bessere Schulen, moderne Krankenhäuser und mehr Chancengleichheit. Was die Proteste für Marokko und seine Jugend bedeuten und wie das WM-Gastgeberland 2030 davon langfristig profitieren könnte.
In den Großstädten Marokkos stehen digitale Litfaßsäulen, um die Tage bis zum Beginn des Afrika Cups im Dezember herunterzuzählen. Die afrikanische Fußball-Meisterschaft wird nur das Vorspiel sein für den ganz großen Höhepunkt, die Fußball-Weltmeisterschaft, die Marokko 2030 gemeinsam mit Portugal und Spanien ausrichten wird. Sie ist für Marokko zum politischen Fixstern geworden: keine politische Verlautbarung und auch keine Kritik scheinen ohne Verweis auf die Ausrichtung der Fußball-WM auszukommen.
Folgerichtig bleiben jetzt auch einige Fußball-Litfaßsäulen nicht von den landesweiten Jugendprotesten im Königreich verschont. Statt Countdown-Zahlen zeigt eine Säule in der Hafenstadt Tanger nun zwischenzeitlich eine Forderung der Protestbewegung „GenZ 212“ an: „Würde und Rückkehr auf einen guten Weg“ (العيش الكريم- الرجوع إلى الطريق المستقيم). Der gute Weg bedeutet für die jungen Demonstranten weniger Investitionen in Stadien und andere Prestigeprojekte, dafür mehr Investitionen in bessere Schulen und moderne Krankenhäuser.
Tausende junge Marokkanerinnen und Marokkanerinnen der „GenZ 212“ demonstrieren seit vergangenem Samstag für diese Anliegen. Generation Z steht für die Geburtenjahrgänge zwischen 1995 und 2010 – in Marokko immerhin 8 Millionen Menschen oder ein knappes Viertel der Gesamtbevölkerung. +212 ist die internationale Telefonvorwahl des Landes. Als ein wichtiger Auslöser der Proteste gelten die Vorfälle in einem öffentlichen Krankenhaus in Agadir: acht schwangere Frauen waren dort binnen zehn Tagen bei Kaiserschnitten gestorben.
Die GenZ 212-Proteste hatten friedlich begonnen, waren von der Polizei jedoch durch umfangreiche Festnahmen rigoros unterbunden worden. Dieses Vorgehen hat die Wut und Enttäuschung vieler junger Marokkaner nur weiter angeheizt. Bis Mittwochabend haben die Proteste ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Neben den friedlichen Demonstrationen gibt es zunehmen gewaltsame Ausschreitungen und Vandalismus. Aus Agadir und Oujda gab es Bilder von brennenden Fahrzeugen, geplünderten Geschäften und ausufernder Polizeigewalt. Unter Polizei und Demonstranten gibt es mehrere hundert Verletzte, mehr als 400 Menschen befinden sich in Gewahrsam. Am Mittwochabend kam es zu den ersten tödlichen Schüssen. Zwei Menschen starben beim Versuch, sich Polizeiwaffen anzueignen. Es sind die heftigsten Proteste, die Marokko seit mindestens acht Jahren erlebt hat, als es zu mehrmonatigen Aufständen in der Rif-Region kam.
Demonstriert hat in den ersten Tagen auch Youness Belaidii, Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Forum de la Citoyenneté (Bürgerforum), einer Partnerorganisation der Stiftung für die Freiheit. Er bereut nicht, für die „gerechten und legitimen Anliegen“ der GenZ 212 auf die Straße gegangen zu sein, obwohl er am Sonntag verletzt und mehrere Stunden festgehalten wurde:
Mein Platz war selbstverständlich bei den Demonstrationen, weil ich fest an Würde, Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz glaube.
Worum geht es GenZ 212?
Das Königreich Marokko befindet sich schon seit längerem auf einem Entwicklungspfad der „zwei Geschwindigkeiten“. Die immense Ungleichheit im Land hat König Mohammed VI. in seiner Rede zum Thronjubiläum am 29. Juli dieses Jahres sogar selbst beklagt, verbunden mit einem dringenden Appell an die Regierung, sich besser um benachteiligte Regionen und Bürger zu kümmern.
Die Fußball-Weltmeisterschaft und die mit ihr verbundenen Riesenprojekte, der Bau neuer Stadien, Schnellzug-Trassen, Autobahnen und Luxus-Hotels lassen Rabat, Casablanca und Tanger für Besucher schon heute wie eine nordafrikanische Version von Dubai wirken. Ein konstant beachtliches Wirtschaftswachstum zwischen drei und vier Prozent macht das Land zu einem Erfolgsmodell in Afrika. Gleichzeitig leben viele Menschen in den ländlichen Regionen weiterhin unter ärmsten Bedingungen und das öffentliche Gesundheitssystem rangiert international im dreistelligen Bereich, hinter Ländern wir Uganda, Liberia oder Ghana. Bei allem Stolz auf die Ausrichtung der Fußball-WM sehen viele Marokkanerinnen und Marokkaner die Investition von umgerechnet mehr als 2 Milliarden Euro in den Neubau und die Renovierung von Stadien deshalb kritisch.
Youness Belaidii beklagt, dass die Forderungen nach besseren Krankenhäusern und Schulen nicht neu sind: „Sie werden seit Jahren von der Zivilgesellschaft und politischen Parteien vorgetragen. Aber in der Realität führen sie zu keinen nennenswerten Veränderungen im alltäglichen Leben der Marokkaner, vor allem nicht bei den Jungen“.
Junge Menschen in Marokko ringen um Teilhabe. Dabei stehen ihnen nicht nur patriarchalische und korrupte Strukturen im Weg, sondern auch die Demografie. Bei einem Durchschnittsalter von 26 Jahren gibt es mehr junge Arbeitskräfte als benötigt werden. Dies zeigt sich an einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 30%, einer der höchsten weltweit. Der Eindruck „nicht gebraucht zu werden“ droht zum Lebensgefühl einer Generation zu werden, deren Potential im ungünstigsten Fall verschwendet oder ans Ausland verloren wird.
Das Vertrauen junger Menschen in das nationale Parlament und die darin vertretenen Parteien befindet sich ein Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen auf einem Tiefpunkt. Laut einer Umfrage von Arabbarometer vertrauten zuletzt 38% der Befragten dem Parlament und gerade einmal 33% dem Regierungschef. Die aktuellen Demonstrationen richten sich deshalb auch nicht gegen die Monarchie, sondern gegen die aktuelle Regierung unter der Führung von Aziz Akhannouch.
Was ist an den Protesten besonders?
Demonstrationen sind in Marokko nichts Ungewöhnliches. In Rabat sind im vergangenen Jahr Hunderttausende Menschen friedlich auf die Straße gegangen, um ihre Solidarität mit der Bevölkerung des Gaza-Streifens zu bekunden. Innenpolitischer Protest hatte sich bereits Mitte des Jahres in den Regionen des Atlas-Gebirges geregt, die vom Erbeben 2023 schwer verwüstet wurden. Die Menschen dort beklagen, dass die versprochene Wiederaufbauhilfe zu spät oder gar nicht käme. Dieses Mal scheint die Regierung die Proteste aber unbedingt klein halten zu wollen, eine Reaktion, die auch Youness Belaidii „schwierig zu verstehen“ findet. Was ist an den aktuellen Protesten also anders?
Anders als noch während des arabischen Frühlings werden die Demonstrationen nicht von bekannten Organisationen und Parteien getragen, sondern von unbekannten Organisatoren dezentral angekündigt, zum Beispiel über digitale Plattformen wie Discord. Dieses Vorgehen dürfte von den jüngsten GenZ-Protesten in Nepal und Madagaskar inspiriert sein, die nicht nur denselben Namen trugen. Dieses Vorgehen macht es den Behörden schwer, die Drahtzieher zu kontrollieren.
Zweitens geht hier eine neue Generation von politisch engagierten Menschen auf die Straße, die sich ihrer in der Verfassung verankerten Bürgerrechte bewusst sind und diese vom Staat einfordern. Sie sind mutig und lassen sich von der Polizei nicht einschüchtern. Mehr Versuche der Unterdrückung werden wahrscheinlich nur zu noch heftigeren Demonstrationen führen. Eine Lösung kann nur politischer Natur sein.
Drittens rütteln die Demonstrationen an der Reputation und am Selbstverständnis Marokkos als stabiles Land, einem Prädikat, das das Königreich vor allem im Vergleich mit den Nachbarländern in Afrika und im Nahen Osten während der vergangenen Jahrzehnte ausgezeichnet hat und das nicht zuletzt auch bei der WM-Vergabe eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte.
Wie kann es weiter gehen?
Für die Glaubwürdigkeit der Anliegen der GenZ 212 sind die ausufernde Gewalt, der Vandalismus und die Plündereien der vergangenen beiden Nächste höchst schädlich. Die Organisatoren müssen – sofern dies überhaupt (noch) in ihrer Macht steht – zur Deeskalation aufrufen und sich für den Fall eines Gesprächsangebots der Regierung sichtbar organisieren. Der Schlüssel zur Lösung der Situation liegt allerdings bei der marokkanischen Regierung. Sie wird einlenken müssen, wenn sie eine weitere Eskalation der Demonstrationen verhindern möchte. König Mohammed VI. ist bei den Protesten während des Arabischen Frühlings 2011 und in der Rif-Region 2017 mit Geschick auf die erhobenen Forderungen eingegangen. Sollte er sich in den nächsten Tagen mit einer Rede an sein Volk wenden, hat dies sicherlich die größten Aussichten auf eine Beruhigung der Lage.
Nachhaltig werden die jungen Demonstranten sich allerdings nur besänftigen lassen, wenn sie von der Ernsthaftigkeit eines versprochenen Kurswechsels überzeugt sind. Dazu bedarf es laut Youness Belaidii zunächst der Freilassung aller inhaftierten Demonstranten und eines Planes zur Ablösung der aktuellen Regierung, zum Beispiel durch vorgezogene Wahlen: „Die aktuelle Regierung trägt die unmittelbare Verantwortung für das Scheitern im Bereich der Gesundheits- und Bildungspolitik“. Darüber hinaus wünscht sich Younes Belaidii wie viele seiner Landsleute der Generation Z eine inklusivere Regierungsweise, die junge Menschen und ihre Belange ernsthaft in ihre Entscheidungsfindung einbezieht. Dies wäre eine Chance, das riesige Potential der marokkanischen Jugend besser zu nutzen. Mehr Teilhabe und mehr Chancengleichheit würden letztlich auch die viel beschworene Stabilität des Landes nachhaltig stärken – damit auf der digitalen Litfaßsäule in Tanger wieder ein Countdown laufen kann, der statt Protest Vorfreude auslöst.