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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Krieg in Europa
Das Ende des (bedingungslosen) Pazifismus

Die Debatte im Bundestag am vergangenen Sonntag war historisch. Sie markiert hoffentlich den Schlusspunkt eines Irrwegs – moralisch und politisch.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD - l) und Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) begrüßen vor einer Sitzung mit den für Sicherheitsfragen zuständigen Bundesministern über die Ukraine-Krise im Bundeskanzleramt Finanzminister Christian Lindner (FDP).

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD - l) und Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) begrüßen vor einer Sitzung mit den für Sicherheitsfragen zuständigen Bundesministern über die Ukraine-Krise im Bundeskanzleramt Finanzminister Christian Lindner (FDP).

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picture alliance/dpa/Reuters/Pool | Michele Tantussi

 

Es hat eine merkwürdige Ironie: Wladimir Putin überfällt mit der russischen Armee die Ukraine. Es gibt deshalb in Deutschland massive Proteste gegen diesen Angriffskrieg und Rufe nach Frieden. Dafür gingen am vergangenen Sonntag allein in Berlin mehr als 100.000 Menschen auf die Straße. Fast zeitgleich verkündete die Bundesregierung die Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine sowie eine drastische finanzielle Aufstockung des Bundeswehretats. Und dies aus einer Ampelkoalition heraus, die mit Grünen und SPD zwei Parteien mit traditionell starken pazifistischen Strömungen einschließt.

Eine historische Wende! Jedenfalls für all jene Beobachter, die eine lange Zeitspanne der Nachkriegsgeschichte durchlebt haben. So auch der Verfasser dieser Zeilen. Er ist 65 Jahre alt. Seine Erinnerungen an gesellschaftliche Stimmungslagen und Strömungen reichen etwa 50 Jahre zurück – bis in seine Schulzeit. In diesen fünf Jahrzehnten war der (bedingungslose) Pazifismus stets eine wichtige Kraft, die weit in die deutsche Gesellschaft ausstrahlte. Politisch war und ist er eindeutig im linken politischen Spektrum zu Hause, aber mit dem hohen, zuweilen auch hochmütigen moralischen Anspruch seiner Vertreter wirkte er bis tief hinein in die bürgerliche Mitte.

Bilder, Themen und Worte tauchen dabei in der Erinnerung auf: die gewaltigen Friedensdemonstrationen gegen die Nachrüstung der NATO im Gefolge des russischen Einmarschs in Afghanistan; die langwierige Diskussion in den achtziger und neunziger Jahren darüber, ob Soldaten als „Mörder“ bezeichnet werden dürften; der rasante Aufstieg der Grünen als eine Sammlungsbewegung nicht nur für ökologische Erneuerung und gegen Kernkraft, sondern auch dezidiert gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr gleich welcher Art. Eine innere Inkonsistenz durchzog diese Position schon immer, denn das Niederringen des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg war ja nur deshalb möglich, weil sich der (bedingsungslose) Pazifismus in der Zwischenkriegszeit eben nicht durchgesetzt hatte, obwohl er damals schon viele Anhänger fand. Die vorübergehende Appeasement-Politik in Großbritannien war kein Zufall, denn sie stieß auf große Sympathien etwa im Intellektuellenmilieu britischer Universitäten – und scheiterte.

Wirklich heftig traten die inneren Widersprüche des (bedingungslosen) Pazifismus aber erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zutage. Gewalt und Kriege im ehemaligen Jugoslawien führten dann auch zur ersten großen Aufweichung der pazifistischen Position der Grünen – dank vor allem des Charismas von Joschka Fischer, der nach heftigen Auseinandersetzungen in seiner Partei 1999 als Außenminister die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg unterstützte. Gleichwohl blieben die Grünen und Teile der SPD auch danach vehemente Vertreter größter Zurückhaltung bei militärischen Engagements und Bremser bei der Ausweitung des Bundeswehretats. Der sank als Anteil des BIP in der Zeit der rot-grünen Regierung 1998-2005 von 1,4 auf 1,1 Prozent; er stagnierte dann bis Mitte des letzten Jahrzehnts zwischen 1,1 und 1,3 Prozent. Erst seit 2016 gibt es einen spürbaren Anstieg zurück auf 1,4 Prozent im Jahr 2020. Selbst ohne grüne Regierungsbeteiligung blieb also der Wehretat in den Merkel-Jahren 2005-2021 relativ niedrig, auch wenn das Verteidigungsministerium stets von CDU-Politiker(inne)n geleitet wurde.

Statistik: Militärausgaben von Deutschland von 2004 bis 2020 (in Milliarden US-Dollar¹) | Statista
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Fraglos spiegelt sich darin eine tiefe gesellschaftliche Selbstzufriedenheit wider, die auf das Fortwirken einer „Friedensdividende“ setzte und gegenüber dem (bedingungslosen) Pazifismus aus dem linken gesellschaftlichen Milieu stets anfällig blieb. Der „moral high ground“ schien unverändert bei Pazifisten zu liegen, auch wenn der Bedarf an militärischem Engagement Deutschlands zur Sicherung humanitärer Ziele wie in Afghanistan eigentlich offen zutage trat. Wladimir Putin hat nun mit seinem Angriffskrieg diesen Zustand zerstört. Dies geschah unerwartet abrupt und radikal, im Grunde an einem Wochenende, dem letzten. Der massive Druck von NATO-Verbündeten vor allem aus Mittel- und Osteuropa sowie der Ukraine selbst hat der deutschen Politik diese tiefgreifende Wende erleichtert. Und die harten gemeinsamen Sanktionen des Westens sind komplementärer Teil einer neuen Strategie des „Containment“.

Es bleibt abzuwarten, wie verlässlich und endgültig diese Wende der deutschen Politik sein wird. Fraglos sind die pazifistischen Neigungen des linken Parteispektrums von SPD über die Grünen bis zur Partei Die Linke ja nicht über Nacht verschwunden. Auch Vertreter der Friedensbewegung und Kirchen bedienen sich weiterhin rhetorischer Wendungen, die dem Repertoire des Pazifismus entstammen – so auch bei den großen Friedensdemonstrationen vom vergangenen Sonntag. Neben dem Appell an Putin, den Angriffskrieg zu beenden, gab es dann doch auch sehr allgemeine Aufrufe gegen Krieg und Waffengewalt – und damit streng genommen auch gegen die militärische Verteidigung der territorialen Souveränität, wie sie jetzt entschlossen und mutig in der Ukraine praktiziert wird.

In jedem Fall hängt die Glaubwürdigkeit der Wende maßgeblich davon ab, dass der neue Kurs auf Dauer erhalten bleibt. Der (bedingungslose) Pazifismus darf nicht wieder auferstehen. Dies zu gewährleisten ist in der Ampelkoalition eine zentrale Aufgabe der FDP – als jener Partei, die traditionell der Landesverteidigung im Rahmen der NATO und ihrer Finanzierung vorbehaltloser gegenübersteht als Grüne und SPD. Parlamentarisch sollte die CDU/CSU diesen neuen Kurs unterstützen, was sie in der historischen Debatte am vergangenen Sonntag tatsächlich getan hat. Die NATO-Partner in West und Ost danken es mit Applaus. Deren Erleichterung über die Botschaft der historischen Parlamentsdebatte war mit Händen zu greifen. Eine große Chance für das wertegebundene Militärbündnis des Westens!