Holocaust-Gedenktag
Wir dürfen niemals vergessen

Ein Plädoyer, das Gedenken an den Holocaust in die Mitte unserer Gesellschaft zu stellen
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte.
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte. © picture alliance/dpa | Fabian Sommer

Am 27. Januar 1945 befreiten russische Soldaten das Konzentrationslager Auschwitz, in dem mehr als eine Million Menschen, vornehmlich jüdischen Glaubens, vom nationalsozialistischen Terrorregime ermordet wurden. Alexander Woronzow, der als Kameramann die Rote Armee auf ihrem Feldzug gen Berlin begleitete, erinnerte sich Jahre später: „Was ich dort gesehen und gefilmt habe, war das Schrecklichste, was ich während des Krieges je gesehen und aufgenommen habe.“ Kurz bevor die Russen Auschwitz erreichten, ermordeten die Deutschen noch einmal zehntausend Häftlinge – in einer einzigen Nacht. Es ist nur eine einzelne Statistik in einer monströsen Menge an kaum zu erfassenden Verbrechen, doch verdeutlicht sie die Bestialität des Vernichtungssystems, für das Auschwitz zum weltweiten Symbol wurde.

76 Jahre später sind die von den Nationalsozialisten begangenen Gräuel Teil unserer gesellschaftlichen Erinnerungskultur. Sie werden im Geschichtsunterricht gelehrt, sind Handlung zahlreicher Hollywood-Blockbuster und Geschichtsdramen. Sie werden literarisch aufgearbeitet und von Historikern wie Politikern regelmäßig ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten gerückt. Warum also ist es so wichtig, jedes Jahr am 27. Januar der Opfer des Holocausts zu gedenken?

Die Antwort ist so simpel wie niederschmetternd: Weil all das, all die Gewalt, die Unmenschlichkeit und die Millionen Toten noch immer und immer wieder missbraucht, relativiert, angezweifelt, sogar geleugnet werden. Das vergangene Jahr mit dem Beginn der globalen Corona-Krise ist dafür das jüngste traurige Beispiel. Allein in den ersten Monaten der Pandemie meldete der Bundesverband RIAS antisemitische Äußerungen auf mindestens 123 Corona-Demonstrationen. Abbildungen von Christian Drosten, Karl Lauterbach und Angela Merkel in KZ-Häftlingskleidung und Sprüche wie „Maske macht frei“ werden im kollektiven Gedächtnis der „Generation Corona“ verankert bleiben – ebenso wie die antisemitischen Verschwörungstheorien zahlreicher selbst ernannter Querdenker: Der Kochbuchautor Attila Hildmann nennt Hitler „einen Segen im Vergleich zur Kommunistin Merkel“ und behauptet, Juden hätten den Holocaust mitfinanziert. Der Schlagersänger Michael Wendler schwadroniert vom „KZ Deutschland“. Und der ehemalige Popstar Xavier Naidoo beschimpfte schon zuvor den Zentralrat der Juden als „Zentralrat der Lügen“.

Ist das Triumvirat der popkulturellen Verschwörungstheoretiker aus Hildmann, Wendler und Naidoo lediglich eine Ansammlung einsamer Irrer, die für ein bisschen Aufmerksamkeit ihren vormals guten Ruf verspielen? Leider nicht. Sie sind die Speerspitze einer lange versteckten, aber doch erschreckend großen Ansammlung von Menschen aller Couleur, denen antisemitische Verschwörungstheorien als Erklärung für die vermeintlichen Missstände dieser Welt dienen. Ob Rap-Star mit Millionenpublikum oder einfacher Corona-Leugner mit Telegram: Aus allen Ecken der Gesellschaft sind im Zuge der Pandemie wieder vermehrt antisemitische Verschwörungstheorien zu hören. Für viele Menschen ist die Coronakrise eine ideale Plattform, um ihre kruden Ansichten ins mediale Scheinwerferlicht zu rücken und sich Gehör über die eigenen vier Wände hinaus zu verschaffen. Nicht umsonst warnte der Zentralrat der Juden, dass Corona als „Katalysator für Antisemitismus“ diene. Man möchte sich verwundert die Augen reiben: Sind wir denn geistig zurück im Mittelalter, mit Corona als neuer Pest, an der Juden die Schuld tragen?

Nun kann man antisemitische Verschwörungstheorien als grundsätzlich absurd abtun, ihre Lautsprecher als Querköpfe verharmlosen und den Antisemitismus als gesellschaftliches Randphänomen bagatellisieren. Doch die Statistiken sprechen eine andere Sprache: Allein im Jahr 2019 verzeichnete das Bundesinnenministerium mehr als 2.000 Gewalttaten gegen Juden – ein Anstieg von dreizehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr und ein trauriger Höchstwert seit dem Beginn der Aufzeichnungen vor etwa zwanzig Jahren. Der Verfassungsschutz warnte im Oktober vor dem „steil ansteigenden Antisemitismus in Deutschland“.

Dass neun von zehn judenfeindlichen Straftaten einen rechtsextremistischen Hintergrund haben, verwundert angesichts der üblen Rhetorik geistiger Brandstifter von AfD bis Pegida nicht. Da heißt es dann: „Diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch viel mehr als zu Franz Josef Strauß' Zeiten. Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.“ Der Urheber dieses infamen Satzes, Björn Höcke, zog 2019 mit der AfD als zweitstärkster Kraft und mehr als 23 Prozent der Stimmen in den Thüringer Landtag ein.

Wenn es je einen Beweis gebraucht hätte, warum Gedenktage wie der 27. Januar auch 76 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz nicht nur berechtigt, sondern noch immer notwendig sind, dann liefern die AfD und ihre Brüder im Geiste diese am laufenden Band. Ob „Vogelschiss“ oder „Denkmal der Schande“: Die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen gehört zum rhetorischen Standardrepertoire der AfD-Funktionäre.

Der Antisemitismus hat noch immer Konjunktur im Deutschland dieser Tage. Welche schrecklichen Folgen die verbalen Provokationen und ausdünstenden Verschwörungstheorien haben können, hat der jüngste Anschlag auf eine Synagoge in Halle gezeigt. Die Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch fasste es treffend zusammen: „Die Gaskammer ist nicht der Holocaust, der Holocaust endete dort.“

Nutzen Sie also den heutigen Tag, um innezuhalten und an die Millionen Opfer des Holocausts zu erinnern. Erst wenn wir das gemeinsame Gedenken aufgeben und die Erinnerung aus unserem sozialen Gedächtnis schwindet, werden die Antisemiten gewinnen. Doch soweit darf, soweit wird es nicht kommen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war heute morgen anlässlich des Holocaust-Gedenktages im Interview bei WDR5. Das volle Interview können Sie sich hier anhören.