7. Oktober
Zwei Jahre nach dem 7. Oktober

Ein Gastbeitrag von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
 besuchte sie das Kibbutz Be'eri, das am 7. Oktober 2023 Opfer des brutalen Angriffs der Hamas wurde.

Besuch des Kibbutz Be'eri, das am 7. Oktober 2023 Opfer des brutalen Angriffs der Hamas wurde.

© FNF

Für Israelis begann der 7. Oktober 2023 mit dem Gefühl existenzieller Bedrohung. Tausende Menschen mussten zusehen und zuhören, wie ihre Angehörigen gefoltert brutal ermordet, oder als Geiseln verschleppt wurden. Die Regierung Benjamin Netanjahus reagierte mit einem Krieg gegen die verantwortlichen Terroristen der Hamas, der sich inzwischen zu einem Instrument innenpolitischer Machterhaltung entwickelt hat. Für die Bevölkerung in Gaza bedeutete der 7. Oktober den zunehmenden Verlust ihrer Lebensgrundlagen. Häuser und Infrastruktur liegen in Trümmern, die Menschen leiden Hunger, Zehntausende Zivilisten sind tot. Während Netanjahu auf Druck seiner rechtsextremen Koalition Annexionspläne im Westjordanland vorantreibt und die militärische Einnahme von Gaza-Stadt befiehlt, ist die israelische Gesellschaft über diesen Krieg zutiefst zerstritten. Die Menschen in Gaza leiden weiter – unter israelischen Militärkampagnen und der Herrschaft der Hamas.

Auch in Deutschland hat der Krieg eine tiefe Polarisierung ausgelöst. Kein Konflikt des 21. Jahrhunderts, nicht einmal der amerikanische Krieg im Irak oder der NATO-Einsatz in Afghanistan mit deutscher Beteiligung, hat die Gesellschaft so sehr gespalten. Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza ist grauenhaft, und Teile der israelischen Armee begehen schwerste Verstöße gegen das Völkerrecht. Diese müssen kritisiert und geahndet werden. Doch warum rufen diese Verbrechen so viel stärkere Reaktionen hervor als beispielsweise der Bürgerkrieg im Sudan, wo Milizen auch mit deutschen Waffen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen? Warum sind Empörung und Protest gegenüber Israel lauter als gegenüber Kriegsparteien in anderen Ländern?

Die besondere Rezeption von Kriegen mit israelischer Beteiligung ist vor dem Hintergrund deutscher Geschichte erklärbar – doch oft auch Ausdruck von Verzerrung, Projektion und blankem Antisemitismus. Die Zuschreibung kollektiver Schuld, die Juden seit Jahrhunderten verfolgt, hat seit dem 7. Oktober neuen Auftrieb erhalten. Niemand käme auf die Idee, einem zufälligen russischen Studenten in Berlin Verantwortung für Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine zu unterstellen. Der jüdische Student Lahav Shapira wurde hingegen krankenhausreif geschlagen. Russische Regierungskritiker werden an deutschen Universitäten zu Recht gefeiert. Israelische Regierungskritiker wie die Richterin Daphne Barak-Erez sehen sich dagegen Boykottaufrufen, Störungen und antisemitischen Parolen ausgesetzt. Gleichzeitig verherrlichen Teile unserer Gesellschaft die Terroristen der Hamas, von denen das ganze Leid des 7. Oktobers ausgeht, als Freiheitskämpfer und Märtyrer.

Dieses Muster hat Geschichte. Seit der Gründung Israels werden dessen Fehler ausgeschlachtet, zunächst von rechtsradikalen, später zunehmend auch von linksprogressiven Milieus. Die Aggression seiner Nachbarn wird dabei allzu oft ausgeblendet. Israels in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 wörtlich ausgestreckte „Hand zum Frieden“ beantworteten fünf umliegende Staaten nur Stunden später mit einem Angriffskrieg. Dass Hunderttausende Palästinenser während der Nakba flohen oder vertrieben wurden, ist bekannt; dass zugleich Hunderttausende Jüdinnen und Juden aus arabischen Staaten vertrieben wurden, dagegen kaum. Dass die Hamas laut ihrer Gründungscharta die Vernichtung Israels anstrebt und der Iran dieses Ziel zur Staatsdoktrin erhoben hat, wird gerne ignoriert.

Israel kämpft seit seiner Gründung um das eigene Überleben. Als Schutzmacht jüdischen Lebens ist es mit keinem anderen Staat vergleichbar: Jüdinnen und Juden – gleich welcher Nationalität – wissen, dass sie dort Zuflucht finden. Zugleich ist Israel auch ein Staat wie andere: Es gibt Machtkämpfe, Korruption, Rassismus und gesellschaftliche Ausgrenzung. Anders als viele seiner Nachbarn verfügt es jedoch über demokratische Strukturen, eine lebendige Zivilgesellschaft und eine starke Opposition. Große Teile der israelischen Gesellschaft kritisieren Netanjahu laut – oft lauter als anderswo –, nicht zuletzt, weil das Schicksal der in den Händen der Hamas verbliebenen Geiseln allgegenwärtig ist. Das müsste auch hierzulande verstanden werden.

Wo jedoch jedes Verständnis verweigert und Israelis pauschal für das Leid in Gaza verantwortlich gemacht werden, bleibt am Ende nur eine Erklärung: Antisemitismus. Der 7. Oktober hat vielen die Gelegenheit verschafft, zuvor verdeckten Hass auf Juden in vermeintlichem „Palästina-Aktivismus“ offen auszusprechen. Israels Kriegsführung muss kritisiert, das Leid der Menschen in Gaza anerkannt werden. Aber weder Juden noch Israelis tragen die Verantwortung für die Massaker des 7. Oktobers. Wer sich aus humanistischer Motivation äußert, muss nicht nur die Völkerrechtsbrüche der israelischen Armee benennen, sondern auch die Verantwortung der Hamas für Beginn und Fortdauern der Katastrophe. Wer das Ende der Kriegshandlungen fordert, muss auch die Freilassung aller Geiseln und die Auflösung der Terrororganisation fordern. Wer die Gründung eines palästinensischen Staates zur Grundlage für Frieden im Nahen Osten erklärt, muss zugleich das Existenzrecht Israels bedingungslos anerkennen. Nur so lässt sich einer weiteren Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken. Wer das mutwillig verhindert, mindert das Leid der Zivilisten in Gaza nicht. Er trägt aber dazu bei, dass Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden weiter zunehmen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Der Beitrag erschien zuerst am 7. Oktober 2025 bei t-online.