Gewalt der Hamas
Die Gewalt der Hamas ist ein Selbsterhaltungstrieb

Ein Kommentar von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Brandenburger Tor
© picture alliance/dpa | Fabian Sommer

Die Bilder von schwerbewaffneten Terroristen der Hamas, die Kinder und Greise aus ihren Häusern entführen, die junge Menschen ermorden und die Leichen wie Trophäen einer jubelnden Menge präsentieren, gehen um die Welt. Das allgemeine Entsetzen ist groß, ebenso die Welle der Solidarität. Sämtliche westlichen Regierungen versichern Israel ihre Unterstützung und fordern ein Ende der Gewalt – wie immer, wenn die Schutzmacht jüdischen Lebens auf Erden angegriffen wird. So richtig diese Forderung ist, so wenig kann sie bewirken. Denn Gewalt ist für die Hamas ein Selbstzweck.

Der Zeitpunkt des Angriffs der Hamas auf Israel ergibt auf den ersten Blick strategisch überhaupt keinen Sinn: Die Regierung Benjamin Netanyahus befindet sich seit Monaten im Krisenmodus. Die umkämpfte Justizreform spaltet die Gesellschaft und hat zur größten innenpolitischen Krise des Landes seit vielen Jahren geführt. Auch innerhalb des israeli- schen Militärs formierte sich Widerstand gegen die Regierung. Die Hamas und ihre Verbündeten hätten abwarten und seelenruhig beobachten können, wie sich die israelische Gesellschaft selbst schwächt. Stattdessen entschieden sie sich für einen – gemessen an ihren militärischen Möglichkeiten – Angriff auf breiter Front.

Die Vergeltung der israelischen Streitkräfte wird massiv sein, die Jagd auf hochrangige Funktionäre der Organisation unter Hochdruck geführt werden. Und die Regierung Netanyahus mit ihren zahlreichen religiösen Hardlinern wird in ihrem Vorgehen die breite Unterstützung der israelischen Bevölkerung haben. Krieg, das hat die Geschichte oft genug bewiesen, eint Bevölkerungen hinter ihrer Führung. Den Hamas-Funktionären war all das bewusst. Trotzdem entschieden sie sich für einen hochriskanten Schlag. Warum?

Für den Angriff der Hamas kann man zwei grundlegende Motivationen erkennen. Zum einen zieht die Terrororganisation ihre Existenzberechtigung aus ihrem vermeintlich „heiligen Krieg“ gegen Israel. Dafür wird sie von ölreichen Golfstaaten und dem Iran finanziert, dafür erzieht sie Kinder zu israelhassenden Dschihadisten. Ein Frieden im Nahen Osten bedeutete einen signifikanten Verlust an Einfluss, wenn nicht gar das Ende der Organisation. Nicht umsonst heißt es in der Charta der Hamas: „Friedensinitiativen sind Zeitverschwendung, eine sinnlose Bemühung.“ Die Gewalt der Hamas, sie ist ein Selbsterhaltungstrieb.

Zwar wirkt ein Frieden im Nahen Osten heute weiter weg denn je, doch mussten die internationalen Schlagzeilen der vergangenen Monate und Jahre der Hamas-Führung Grund zur Sorge bereiten. Seit dem Jahr 2020 hat Israel im Rahmen der Abraham Accords diplomatische Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit Bahrain, Marokko und dem Sudan aufgenommen. Viel dramatischer aus Sicht der Hamas wäre jedoch eine schrittweise Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien, der traditionellen Schutzmacht der Palästinenser. Nach Einschätzung internationaler Beobachter war eine Einigung unter Vermittlung der USA absehbar. Der Angriff der Hamas, so ist zu vermuten, sollte auch dazu dienen, die laufenden Gespräche zu torpedieren.

Die zweite Motivation der Hamas ist indes keine machtstrategische, sondern eine rein ideologische. Denn der beständige Terror resultiert aus einem tief verinnerlichten Hass, der sich nicht allein gegen Israel, sondern gegen das gesamte Judentum richtet. Noch einmal die Charta der Hamas: „Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, solange Muslime nicht die Juden bekämpfen und sie töten.“ Aussagen wie diese lassen keinen Spielraum für Interpretationen. Erklärtes Ziel der Hamas und ihrer Unterstützer aus Iran und Libanon ist die Auslöschung alles jüdischen Lebens. Das ist mit realpolitischen Strategien nicht zu erklären – das ist reiner Vernichtungswahn.
Es ist ein Wahn, der keineswegs auf den Gazastreifen begrenzt ist. Jeden Tag werden Juden in aller Welt aufgrund ihres Glaubens verbal und physisch angegriffen. Allein in Deutschland wurden im vergangenen Jahr 2641 antisemitische Straftaten erfasst. Viele Menschen, auch in Deutschland, wollen nicht erkennen, dass die Situation von Juden auch im Jahr 2023 prekär ist. Israel ist der einzige Staat, der diesen Menschen unabhängig ihrer Nationalität jederzeit Schutz bieten wird. Auch deshalb ist das Existenzrecht Israels deutsche Staatsräson. Auch deshalb ist es entscheidend, dass Israel seinen feindseligen Nachbarn militärisch überlegen ist. Auch deshalb ist es richtig, dass Israel konsequent gegen den Terror und die permanente Bedrohung der Hamas vorgeht.

Wer angesichts des neuerlichen Terrors wieder einmal über die historische Verantwortung der israelischen Regierungen von David Ben-Gurion bis Benjamin Netanyahu doziert, sollte sich klarmachen: Israel muss jeden Tag um das eigene Überleben kämpfen. Wer das immer noch nicht begriffen hat, wird 50 Jahre nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges einmal mehr eines Besseren belehrt.

Dieser Artikel erschien erstmalig am 8. Oktober 2023 in der Rheinischen Post.