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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

EU-Stabilitätspakt
Lektion vergessen?

Die EU-Kommission will den Stabilitätspakt massiv aufweichen. Das ist gefährlich.
Das Gebäude der EZB in Frankfurt.

Die EU-Kommission will den Stabilitätspakt massiv aufweichen. Das ist gefährlich.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Gerade mal ein gutes Jahrzehnt ist vergangen, seit die Eurozone durch ihre bisher schwerste Schuldenkrise schlidderte. Sie konnte schließlich nur durch ein Machtwort des damaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, unter Kontrolle gebracht werden. Am 23. Juli 2012 verkündete er, die EZB werde im Falle einer Herdenflucht aus den Obligationen der hoch verschuldeten Länder bereitstehen, durch massiven Aufkauf der von Kursverfall bedrohten Papiere als Gläubiger der letzten Instanz zu intervenieren und damit auch den Euro stützen, und zwar „whatever it takes“, also ohne quantitative Beschränkungen.

Das war starker Tobak. Es wirkte sofort. Aber klar ist: Eine solche Brachialintervention kann man sich nicht zu oft leisten, will man als Zentralbank glaubwürdig bleiben. Und sie funktioniert auch nur, wenn sie durch nachfolgende Konsolidierung der nationalen Finanzpolitik untermauert wird. Diese kam tatsächlich zustande. Vor allem Griechenland, aber auch Frankreich, Italien, Portugal und Spanien näherten sich Schritt für Schritt einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht einschließlich moderatem, im Fall von Griechenland sogar durchaus dynamischem Wirtschaftswachstum. Der Stabilitätspakt war also keineswegs obsolet. Ohne seine disziplinierende Wirkung wäre eine Rückkehr zur Stabilität nicht möglich gewesen.

Allerdings ist diese Stabilität permanent gefährdet. Sie wurde einige Jahre durch die niedrigen Zinsen und die annähernde Preisstabilität begünstigt, aber dies ist seit der Corona-Pandemie und dem Beginn des Ukraine-Kriegs vorbei. Die Zinsen sind zwischenzeitlich kräftig gestiegen, und auch die „Spreads“ der Renditen zwischen dem Stabilitätsanker Deutschland und den höher verschuldeten Nationen schossen nach oben. Für 10-jährige Staatsanleihen erhält man hierzulande derzeit 2,6 Prozent, in Griechenland und Italien rund 4,5 Prozent pro Jahr.

Soweit die aktuelle Lage. Die EU-Kommission hat nun jüngst verkündet, dass sie – einem eigenen Positionspapier aus dem November 2022 folgend – die Stabilitätsdiagnose eines Landes stärker differenziert betrachtet sehen will, je nach nationaler Leistungsfähigkeit. Entscheidendes Kriterium soll dabei die „Schuldentragfähigkeit“ sein, die sich vor allem nach der Bewertung der Kapitalmärkte richtet. Das ist gefährlich, denn gerade diese Bewertung ist ja selbst abhängig von dem „Stabilitätsrahmen“ der EU, und wenn man diesen aufweicht, wird gleichzeitig der politische Anker des Systems geschwächt – mit der Folge, dass ein Land sehr schnell in den Strudel der Abwärtsbewertung geraten kann, sodass wie 2012 nur noch brachiale Notmaßnahmen helfen. Gerade dies muss man aber doch vermeiden, um die Glaubwürdigkeit des Euro und der Eurozone nicht zu gefährden. Offenbar versteht die EU-Kommission die Kausalitätsrichtung der Krisenvorsorge nicht – oder will sie nicht verstehen. Diese läuft von der Politik zu den Märkten, nicht umgekehrt!

Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat sich deshalb entschieden gegen die Pläne gewehrt. Er tat dies politisch, weil die zuständigen EU-Kommissare den Eindruck erweckten, die Pläne seien schon beschlossene Sache, wo sie doch erst als Diskussionsgrundlage für die künftige Ausgestaltung des Stabilitätspakts dienen sollen. Er tat dies aber auch zu Recht inhaltlich, weil damit der ganze Pakt gefährdet würde.

Die EU steht vor schwierigen Verhandlungen, die wieder einmal alte Wunden aufreißen könnten – Wunden, die nach den Schuldenkrisen vor gut einem Jahrzehnt nur scheinbar verheilten. Es könnten in der Eurozone die bekannten Fronten wiederauftauchen:zwischen den stabilitätsorientierten „Frugal Four“ (Deutschland, Finnland, Niederlande und Österreich) und den mediterranen Ländern plus Frankreich sowie offenbar auch der EU-Kommission. Eine politisch spannungsgeladene, aber wohl unvermeidlich Kontroverse.