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Krieg in Europa
Zehn Jahre Ukraine-Krieg: Die Folgen von Putins Aggression und Deutschlands geopolitischem Kurs

Regierungskritische Demonstranten nehmen an einer Demonstration auf dem Maidan-Platz in Kiew teil.

Demonstranten nehmen 2014 an einer Demonstration auf dem Maidan-Platz in Kyjiw teil.

© picture alliance / dpa | Benjamin Girette

Dieser Artikel erschien in gekürzter Version erstmalig am 20.02.2024 im Handelsblatt.

Am 20. Februar 2014 versuchte die russisch orientierte ukrainische Regierung, die proeuropäischen Demonstrationen auf dem Maidan in Kyjiw gewaltsam niederzuschlagen. 49 Menschen kamen dabei ums Leben. Gleichzeitig erhielten russische Spezialkräfte den Befehl, ukrainische Militärstützpunkte auf der Krim zu blockieren. Damit löste der russische Diktator Wladimir Putin den Ukraine-Krieg aus, dessen Beginn sich heute zum zehnten Mal jährt.

Die von der russischen Regierung euphemistisch als „friedenssichernd“ bezeichnete Operation sowie die versuchte Niederschlagung der Maidan-Revolution markierten eine historische Wende. Nur wenige Beobachter erkannten damals, welche langfristigen Folgen der russische Angriff auf die Ukraine, Europa und die Welt haben sollte. Lange wurde er im Westen als ein begrenzter regionaler Konflikt und als Spätfolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion betrachtet. Auch die großen Gasvorkommen im Schwarzen Meer wurden als Grund für den Konflikt angeführt. Diese Sichtweise erklärt, warum so viele Staaten der Ukraine in den Jahren zwischen dem Beginn des Krieges und der russischen Invasion vor zwei Jahren nur begrenzte Hilfen zukommen ließen. Während Deutschland im Jahr 2019 – fünf Jahre nach Kriegsbeginn – lediglich Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und Flüchtlingshilfe bereitstellte, lieferte die US-Regierung Javelin-Panzerabwehrraketen. Diese sollten sich später als entscheidend für die Abwehr der russischen Invasionstruppen herausstellen.

Naivität und Realitätsverweigerung: Deutschlands Kurs in der Geopolitik

Es waren Naivität und Realitätsverweigerung, die uns in Deutschland in die Irre führten. Putin hatte seine revisionistische Weltsicht nie verheimlicht. Doch selbst die Krim-Annexion und der Krieg im Donbas, in dessen Verlauf bis 2021 über 14.000 Menschen starben, hatten den Blick in der deutschen Politik kaum geschärft. Warnungen aus der Ukraine und den östlichen EU-Mitgliedstaaten wurden geflissentlich überhört. Höhepunkt der Ignoranz war das Festhalten an der Pipeline Nord Stream 2, die nun als milliardenteures Mahnmal auf dem Grund der Ostsee ruht.

Ukrainer nehmen an einer Trauerfeier für die Menschen teil, die bei den Unruhen auf dem Maidan Nezalezhnosti, dem Unabhängigkeitsplatz, in Kiew, Ukraine, am 21. Februar 2014 getötet wurden

Ukrainer nehmen an einer Trauerfeier für die Menschen teil, die bei den Unruhen auf dem Maidan getötet wurden.

© picture alliance / abaca | AA

Was viele Beobachter und Politiker nicht wahrhaben wollten: Die Welt steuerte auf einen gewaltigen geopolitischen Konflikt zu. Auf der einen Seite steht ein Netzwerk an Staaten, das der Kolumnist Thomas L. Friedman in der New York Times kürzlich „Inclusion Network“ taufte. Angeführt von den USA gehören zu diesem Netzwerk unter anderem die Mitgliedsländer der EU, Kanada, Großbritannien, Australien, Japan, Taiwan, Südkorea und Israel. Was diese Staaten eint, ist der Glaube an Fortschritt durch Vernetzung, Handel und Teilhabe.

Dem gegenüber stehen die regressiven Mächte Russland und Iran, von Friedman als „Resistance Network“ bezeichnet. Zu diesem Netzwerk gehören die Vasallenstaaten Belarus und Nordkorea ebenso wie nicht-staatliche Akteure rund um die Hisbollah, Hamas und Huthi-Milizen. Ihr Ziel ist es, ihre autokratischen Ordnungen um jeden Preis zu erhalten. Dass die Ukraine die Nähe zur freiheitsorientierten EU suchte und so Gefahr lief, sich vom russischen Einfluss zu lösen, war für Putin nicht hinnehmbar. Wäre die Ukraine anschließend aufgeblüht, hätte dies eine direkte Bedrohung für Putin dargestellt. Schließlich bezieht er seine Herrschaftslegitimation allein aus der faktenfreien Behauptung, stärker zu sein als der vermeintlich degenerierte Westen.

Iran, Hamas und China: Die Folgen der Abraham-Accords

Die Abraham-Accords, die zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und dem Sudan führten, bedrohten die Machtinteressen des Iran und der Hamas. Dass Israel kurz davor stand, ein Abkommen mit Irans Dauerrivalen Saudi-Arabien abzuschließen, wollten die Mullahs in Teheran nicht akzeptieren. Auch deshalb hielten sie die Hamas wohl nicht davon ab, im vergangenen Oktober ein Massaker an über 1.200 Jüdinnen und Juden in Israel auszuführen, das einen regionalen Krieg auslöste und die Normalisierungsprozesse zwischen Israel und weiteren arabischen Staaten bis auf weiteres auf Eis legte.

Wichtige Unterstützung erhalten die regressiven Mächte von China unter Xi Jinping, das zwar wie wenige andere Länder von globaler Vernetzung profitiert, rhetorisch jedoch regelmäßig Partei ergreift und selbst damit droht, das progressive Taiwan anzugreifen. Es ist kaum zu bezweifeln, dass China sich im globalen Krisenfall auf die Seite Russlands und nicht die des Machtrivalen USA stellen würde.

Die geopolitische Blockbildung wird Jahre dauern und teuer werden

Dieser Kampf zwischen einem progressiven und einem regressiven Netzwerk wird uns auf Jahre beschäftigen. Er wird auf vielen Ebenen geführt, nicht nur militärisch, sondern auch im Netz, in internationalen Organisationen, in der Forschung, im Weltraum und rund um die globale Infrastruktur. Und dieser Kampf wird kosten. Er kostet Menschenleben auf den Schlachtfeldern der Ukraine, in Israel und Gaza. Er kostet Milliarden an Dollar, die in militärische Aufrüstung investiert werden – und die an anderer Stelle fehlen werden. Cyberangriffe, unterbrochene Lieferketten und neue Standortrisiken werden immense wirtschaftliche Schäden verursachen. Doch was ist die Alternative?

Wenn wir im Systemkonflikt gegen russische, iranische und chinesische Aggressoren langfristig bestehen wollen, müssen wir diejenigen, die an vorderster Front kämpfen, stärker unterstützen. Hätten wir der Ukraine nach dem Ausbruch des Krieges vor zehn Jahren mehr Hilfen zukommen lassen, wäre es den Verteidigern nach dem 24. Februar 2022 vielleicht gelungen, nicht nur die Invasion abzuwehren, sondern die russischen Besatzer gänzlich aus ihrem Land zu vertreiben. Stattdessen wird dieser Krieg andauern und noch viele weitere Menschenleben kosten.

Lehren aus der Vernachlässigung unserer östlichen Bündnispartner

Die Vernachlässigung unserer östlichen Bündnispartner und der Ukraine im Angesicht von Putins Aggression war ein schwerwiegender Fehler. Umso wichtiger ist es, dass wir künftig ungeschönt auf die Situation in der Welt blicken. Es geht darum, die von den regressiven Mächten ausgehenden Bedrohungen nicht als hypothetisch, sondern als real anzuerkennen und möglichen Folgen offen zu diskutieren: Wie reagieren wir auf einen chinesischen Überfall auf Taiwan? Was ist unser strategisches Ziel im Ukraine-Krieg? Wie können wir die Opposition im Iran stärken? Und wie können wir die vielen Länder im Globalen Süden, die Sympathien für Russland und China hegen, von den Vorteilen des progressiven Netzwerks überzeugen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir endlich alle Naivität ablegen. Hätten wir unsere Lektionen bereits gelernt, dann würden wir nicht immer noch darüber streiten, ob Deutschland der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zur Verfügung stellen sollte. Sie wären längst dort. Seit zehn Jahren sterben jeden Tag Ukrainer im Kampf für ihre und unsere Freiheit. Wir sind ihnen jede Unterstützung schuldig.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung.

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