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Ehrung
Gerhart Baum mit Großem Verdienstkreuz mit Stern geehrt

Gerhart Baum
© picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit gratuliert Gerhart Baum, dem ehemaligen Bundesinnenminister a.D. zur Würdigung seines Einsatzes als Vorkämpfer für Bürgerrechte durch die Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern durch Bundespräsident Steinmeier. Im Namen der Stiftung kommentierte Prof. Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der Stiftung:

Wir gratulieren mit vollem Herzen und hoffen, dass Gerhart Baum mit seinem liberalen Kompass, seinem weitsichtigen Blick auf die Themen der Zeit und seinem streitbaren Einsatz für Bürger- und Menschenrechte weiter deutlich Gehör findet.

Karl-Heinz Paqué

Zu seinem 90-jährigen Geburtstag hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Stiftung, im Band „In liberaler Mission – Gerhart Baum und die deutsche Demokratie“ die Eindrücke von rund 40 Zeitgenossen, Weggefährten und Freunden auf sein vielfältiges Wirken als das „liberale Gewissen der Republik“ herausgegeben. Im Folgenden spricht der Geehrte selbst in einem Interview im aktuellen Liberal Magazin Ausgabe 03/2023.

Michael Hirz: Sie gehören zu den prominentesten Stimmen in der Debatte um den Ukrainekrieg. Hat Ihr außergewöhnliches Engagement auch biografische Bezüge? Ihr Großvater war Ukrainer, Ihre Mutter Russin, Sie haben die Dresdner Bombennacht 1945 und anschließende Flucht erlebt.
Gerhart Baum:
Ja. Das ist ein Krieg, wie ich ihn erlebt habe. Der unberechenbaren Gewalt ausgesetzt, in Luftschutzkellern und brennenden Städten. Das lässt Erinnerungen wach werden.

Das Markenzeichen der sozialliberalen Koalition, die Sie maßgeblich mitgeprägt haben, war die Entspannungspolitik, deren Ziel Friedenssicherung, Abrüstung und Aussöhnung war. Jetzt haben Sie erklärt, die „frühere Entspannungspolitik ist überholt“. Wie ist das zu verstehen?
Wir haben heute eine ganz andere Situation. Damals haben wir gegen heftigsten Widerstand von Union und Konservativen diese Politik durchgesetzt. Ziel war das Ende des Kalten Krieges, Brücken zu bauen nach Osten und gleichzeitig das Vertrauen des Westens zu erhalten. Das alles war möglich mit Vertragspartnern, die relativ zuverlässig, also vertragstreu waren. Ein Schlüsselmoment war Helsinki 1975, wo vertraglich eine Sicherheitspartnerschaft begründet wurde. Friedenssicherung, Abrüstung, wirtschaftlicher Austausch und Menschenrechte wurden zusammengeführt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist das 1990 von 34 Staaten noch einmal bekräftigt worden. Das alles hat Putin aufgekündigt. Wir haben also eine völlig andere Situation.

In einem Friedensappell fordern jetzt zahlreiche Prominente, darunter ein Sohn Willy Brandts und auch etliche Ihrer politischen Weggefährten, unter Berufung auf die Politik von Brandt und Scheel einen schnellen Waffenstillstand im Ukrainekrieg und Verhandlungen. Was ist falsch daran?
Eigentlich alles. Sie wollen eine Friedenssehnsucht auf Kosten der Freiheit befriedigen und, schlimmer noch, sie setzen Angreifer und Angegriffene gleich. Das ist ein Pazifismus, der sich von der Realität abkoppelt, ein verantwortungsloses Dokument. Sie liefern die Ukraine dem Diktator aus.

Auch legitime Sicherheitsinteressen Russlands werden angeführt. Wäre die Verpflichtung der Ukraine zu einem Verzicht auf eine potenzielle NATO- und EU-Mitgliedschaft gerechtfertigt?
Das ist absoluter Unsinn. Die NATO ist ein Bündnis freier Völker, sie bedroht niemanden. Was Putin fürchtet, ist, dass der Funke der Freiheit sein Land erfasst. Eine demokratische, prosperierende Ukraine an seiner Grenze wird Putin nicht ertragen.

Derzeit setzen beide Seiten, Russen wie Ukrainer, auf eine militärische Lösung des Konflikts. Kann der Krieg überhaupt militärisch entschieden werden?
Angesichts der Bedrohungssituation wird eine Befriedung überhaupt nur möglich sein, wenn der Westen Sicherheitsgarantien für die Ukraine übernimmt. Der Aggressor muss „aggressionsunfähig“ gemacht werden – politisch und militärisch.

Gerhart Baum
© NZZ Libro

Das wäre mindestens ein halber Schritt in die NATO mit ihrer Beistandsverpflichtung.
Ja, und der nächste Schritt wäre die Aufnahme in die EU.

Ist das mit einem Nachbarn Putin jemals denkbar?
Nein. Solange Putin Machthaber ist und sein Leben von dieser Macht abhängt, wird das nicht gehen. Aber es lauern um ihn herum alle möglichen Leute, die ihn stürzen wollen. Er muss, wie sein Vorgänger Stalin, die Attitüde der Allmacht behalten. Ein Zurück zu einer milderen Unterdrückung, zu Wirtschaftsreformen und einer freiwilligen Übergabe an einen Nachfolger wird es nicht geben. Es gibt ein anderes Russland, es wäre arrogant, das zu bestreiten. In einflussreichen Moskauer Kreisen wird hinter vorgehaltener Hand gefragt: Was haben wir überhaupt von diesem furchtbaren Krieg? Es gibt jenseits von Putin eine Zivilgesellschaft in Russland. Übrigens: Auch die Deutschen waren nach dem Krieg zur Demokratie fähig, obwohl ihnen manche das nicht zugetraut haben nach der Nazi-Barbarei.

Gibt es eine Chance für die innerrussische Opposition gegen Putins Unterdrückungsapparat?
Ja, die sehe ich durchaus. Russland ist eine Kleptokratie, die das Land ausbeutet. Eine Tankstelle mit Atomwaffen. Es gibt keine nach vorne gerichtete Investition, eine halbe Million Menschen, vor allem junge, hat Russland verlassen. Das hat keine Zukunft.

Wie reagiert ein Machthaber, der ohne Fluchtmöglichkeit und hoch bewaffnet in die Enge getrieben wird? Das ist auch die Sorge hinter dem Friedensappell.
Frau Wagenknecht denkt nur an die eigene Verletzlichkeit, sie denkt nicht daran, dass die ersten Opfer taktischer Atomwaffen Ukrainer wären. Wenn Putin Atomwaffen einsetzt, wäre das sein politisches Todesurteil, dann würde sich die Welt noch stärker gegen ihn stellen. Auch die Chinesen.

Was Putin fürchtet, ist, dass der Funke der Freiheit sein Land erfasst.

Gerhart Baum

Bisher haben sich viele Länder der westlichen Linie verweigert – Brasilien, Indien, Südafrika und andere. Müssen die nicht jetzt schon gewonnen werden?
Die Rivalität zwischen den USA und China macht es vielen Ländern schwer, sich zu positionieren. Der sogenannte Globale Süden ist nicht auf der Seite Putins, die Resolutionen im Sicherheitsrat zeigen das ja. Aber diese Staaten wollen nicht instrumentalisiert werden in der Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Darin liegt eine große Chance für Europa, Brücken zu bauen. Europa genießt in manchen Weltgegenden größeres Vertrauen als die USA. Das versucht ja auch Scholz gerade mit seiner Reise-Diplomatie zu nutzen. Aber Europa muss stärker werden und lernen, mit einer Stimme zu sprechen.

Putin scheint auf eine Ermüdung des Westens bei der Unterstützung der Ukraine zu setzen. Wie groß ist die Gefahr? Und was bedeuten in dem Zusammenhang die anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA? Ein Wettlauf mit der Zeit?
Das sind Gefahren. Aber auch ein Präsident Trump würde Putin nicht befriedigen. Putin hat eine Mission, er will eine neue Weltordnung, die gegen die USA gerichtet ist. Er fühlt sich vom Schicksal bestimmt und sieht sich in der Nachfolge Peters des Großen.

Letztlich entscheidet der Kriegsverlauf, wann und wie mit Verhandlungen begonnen werden kann. Ist vorstellbar, dass die Ukraine auf besetzte Gebiete verzichtet?
Das ist schwer vorstellbar.

Wer könnte als Mittler fungieren, als von beiden Seiten akzeptierter Makler?
Gab es Hitler gegenüber einen Vermittler? Die Wende kam mit Churchills Rede 1940. Kein Appeasement.

Schauen wir noch mal auf Deutschland. Wie bewerten Sie die deutsche Politik in diesem Krieg?
Das Land hat grosso modo seinen Weg gefunden. Aber Deutschland ist immer in Gefahr, eine Sonderrolle zu spielen. Deshalb gibt es im Westen immer wieder auch Misstrauen uns gegenüber. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Alle unsere Verbündeten, alle haben uns gewarnt: Ihr stützt das Regime und begebt euch in Abhängigkeit mit Nordstream 2. Aber die Deutschen haben auf diesem Sonderweg bestanden.

Aber Moskau war selbst in Zeiten großer Spannung während des Kalten Krieges vertragstreu.
Man hat nicht damit gerechnet, dass Putin die Ukraine überfällt. Aber seit 2011 hat Putin planmäßig die russische Zivilgesellschaft zerstört, als er nach der gefälschten Wahl gemerkt hat, da ist Widerstand. Es gingen Hunderttausende auf die Straße. Da hat er angefangen, eine Diktatur aufzubauen. Damals hätte Deutschland schon anders reagieren müssen. Ich konnte vorher neben dem Kreml in einem Saal mit Hunderten Menschen über Freiheit diskutieren, auch anderswo in Russland. Dann wurde ich plötzlich zum ausländischen Agenten.

Deutschland hätte also damals schon reagieren müssen?
Angela Merkel hat einmal gesagt, sie hätte der Aufnahme der Ukraine in die NATO damals nicht zugestimmt, weil das Land noch nicht bereit und fähig war, sich zu verteidigen. Merkel hat also die Gefahr gesehen und glaubte, ihr diplomatisch begegnen zu können. Das muss man ihr zugutehalten. Aber die Nord-Stream-Pipeline war eine Brüskierung der Ukraine. Da wurde eine Leitung um die Ukraine herum gebaut. Warum? Diese Erfahrung erklärt auch das Misstrauen, als Scholz anfangs so zögerte bei der Frage der Waffenlieferungen.

Warum hat der Bundeskanzler Ihrer Meinung nach gezögert?
Weil er auf seine Partei Rücksicht genommen hat. Die SPD ist bis heute nicht eindeutig in ihrer Russland-Politik.

Deutschland ist in Sachen Verteidigungspolitik gerade auf der Überholspur. Innerhalb kürzester Zeit müssen Aufwendungen drastisch erhöht werden und unsere Einstellung zum Militärischen sich deutlich verändern.
Das hat es mittlerweile. Unsere Verbündeten in der NATO haben das ständig angemahnt. Nach dem Krieg waren wir traumatisiert. Ich erinnere an die heftige Diskussion hierzulande um die Wiederbewaffnung – trotz der massiven Bedrohung durch Stalins Sowjetunion. Oder an den umstrittenen NATO-Doppelbeschluss. Da standen hoch emotionalisierte Demonstranten mit Fackeln vor meinem Privathaus. Heute verlangt eine Minderheit am 1. Mai, die Ukraine nicht mehr mit Waffen zu unterstützen.

Wenn Deutschland jetzt die Vorgabe einhält, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, verschieben sich militärisch die Gewichte in Europa. Dann wäre Deutschland konventionell die größte Militärmacht des Kontinents. Löst das bei unseren Nachbarn Befürchtungen aus?
Nein. Von unseren Freunden hat niemand Angst vor Deutschland. Das wäre auch völlig unberechtigt. Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen, und das bedingt auch eine größere militärische Stärke.

Michael Hirz ist Journalist und Moderator. Von 2008 bis 2018 leitete er den Politiksender Phoenix. Heute schreibt er als Autor verschiedener Zeitungen und Magazine.