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Krieg in Europa
Das andere Russland

Marina Owsjannikowa

Die Abendnachrichten des wichtigsten russischen Nachrichtensenders werden von Marina Owsjannikowa durch ihre Protestaktion unterbrochen 

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picture alliance / NurPhoto | STR

Wissen ist Macht – das gilt auch bei dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und der damit einhergehenden Propaganda Russlands. Die umfassende Zensur beeinflusst die Haltung der Bevölkerung zum Krieg. Das Putin-Regime will sich der Unterstützung seiner Landsleute sicher sein und der Welt zeigen, mit welcher Begeisterung die russische Öffentlichkeit die Invasion befürwortet. Zwar ist der öffentliche Jubel von staatlicher Seite sorgfältig orchestriert, doch nicht wenige Russinnen und Russen befürworten tatsächlich den Krieg gegen das Nachbarland.

Allerdings regt sich Widerstand im autoritär geführten Land: Allein am Tag des Beginns der Invasion am 24. Februar 2022 wurden mehr als 1.700 Bürgerinnen und Bürger in 53 Städten in ganz Russland von der Polizei festgenommen, die gegen den Krieg protestiert hatten. Die Menschen unterstützten die Souveränität der Ukraine und hielten auf den Straßen Plakate mit der Aufschrift „Nein zum Krieg“ oder „Ich bin für Frieden“ in die Höhe. Daraufhin veröffentlichten die russischen Behörden eine Erklärung, in der davor gewarnt wurde, sich an nicht genehmigten Protesten zu beteiligen. Ein solches Vergehen werde eine Strafverfolgung nach sich ziehen.

Dabei sollte es nicht bleiben. Nach Einführung eines neuen Zensurgesetzes am 4. März wurden kritische Menschen in Russland noch vorsichtiger. Dem Gesetz nach kann die Verbreitung angeblicher „Falschinformationen“ über die russischen Streitkräfte mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen geahndet werden. Die drakonischen Strafen sehen bis zu fünfzehn Jahre Haft vor. Auch Medien ist es verboten, in ihrer Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie „Invasion“, „Angriff“ oder „Krieg“ zu verwenden. Stattdessen muss der Euphemismus „Sonderoperation“ genutzt werden.

Durch repressive Maßnahmen versucht Putin, die Brutalität seines Kriegs der Bevölkerung vorzuenthalten. Doch viele ließen sich davon nicht einschüchtern. Wie die Organisation OWD-Info mitteilte, gab es seit Kriegsbeginn bei Demonstrationen mehr als 15.000 Festnahmen. Zu dieser Gruppe von Kriegsgegnern gehören auch verschiedene Kollektive, die sich in offenen Briefen gegen das Putin-Regime wenden und den Angriffskrieg in der Ukraine anprangern.

„Die Ukraine war und wird ein uns nahes Land bleiben“

Der auf der Webseite der Zeitung „Troitski Wariant Nauka veröffentlichte Brief vom 24. Februar lässt keinen Zweifel: über 7.000 russische Forschende wenden sich offen gegen ihre Regierung und erklären den „entschlossenen Protest gegen die Militäraktionen der Streitkräfte unseres Landes auf dem Territorium der Ukraine“. Die Gruppe zeigt sich mit dem Nachbarsstaat solidarisch und achtet die ukrainische Staatlichkeit, die sich „auf real funktionierende demokratische Institutionen“ stütze, heißt es in dem Text. Für die Initiatoren stellt der Krieg einen verhängnisvollen Schritt dar, der zu unzähligen Todesopfern führen und die Grundlagen des etablierten Systems der internationalen Sicherheit untergraben wird: „Die Ukraine war und wird ein uns nahes Land bleiben“. Als Reaktion forderte der Kreml die russische Bevölkerung auf, sich hinter ihren Präsidenten Wladimir Putin zu stellen, da dies nicht die Zeit sei, „um gespalten zu sein“, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollten mit ihrer Aktion ein Gefühl der Gemeinschaft vermitteln und der Welt zeigen, dass die russische Bevölkerung nicht mit der Regierung gleichzusetzen ist. Viele internationale wissenschaftliche Gesellschaften, Ministerien, Universitäten und Zeitschriften hatten den Kontaktabbruch zu russischen Forschenden angekündigt – eine Reaktion, die für die Unterzeichnenden nicht nachvollziehbar ist. Es sei „unfair und kurzsichtig“, so ein Unterstützer. Seines Erachtens ist es gerade in der heutigen Zeit wichtig, zwischen der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der Regierung zu unterscheiden.

„Es kann keine Rechtfertigung für diesen Krieg geben“

Kurz nach Veröffentlichung des Briefes wuchs der Widerstand auch innerhalb anderer Berufsgruppen. So erklären russische Juristen, dass sie den Militäreinsatz kategorisch ablehnten und fordern, ausgehend vom Primat des Rechts, die sofortige Beendigung der Kriegshandlungen: „Das Vorgehen Russlands verstößt in grober Weise gegen Artikel 2, Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen, die von allen Staaten fordert, jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Anwendung von Gewalt zu unterlassen.“

Auch ein Teil des russischen Gesundheitswesens positioniert sich gegen Putin und fordert die Einstellung der Feindseligkeiten auf dem Gebiet der Ukraine. Binnen kürzester Zeit unterschrieben knapp 12.000 Beschäftigte den Brief. Darin stellen sie klar, dass es ihre Aufgabe sei, Menschenleben zu retten: „Es dauert nur einen Augenblick, um im Kampf getötet zu werden, während die Behandlung und Genesung der Opfer Jahre dauern kann. Für die Momente des heutigen Krieges werden wir noch viele Jahre lang bezahlen“.

Unterdessen haben sich auch russische Studierende an deutschen Hochschulen in einer Petition zu den europäischen kulturellen Werten und Ansichten bekannt. „Es kann keine Rechtfertigung für diesen Krieg geben“, heißt es in dem auf change.org veröffentlichten Schreiben.

Keine pauschale Verurteilung

Die Studierenden schreiben, dass die Regierung der Russischen Föderation „gegen die Interessen der russischen Gesellschaft handle“ und dass diese Taten „im Widerspruch zu unseren Werten und Überzeugungen stehen". Für sie sei es das Mindeste, das Thema offen anzusprechen, denn Schweigen käme einem Einverständnis gleich. 

Doch nicht nur Gruppen, auch einzelne Personen statuierten ein Exempel für das andere Russland. Die wohl bekannteste ist Marina Owsjannikowa, die mit ihrer Protestaktion im russischen Fernsehen die Lügen und Propaganda des Kremls anprangerte. Owsjannikowa hatte während einer Sendung hinter der Nachrichtensprecherin ein Plakat mit der Aufschrift „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen“ in die Kamera gehalten. Die Liveübertragung wurde kurz danach abgebrochen. Sie forderte ihre Landsleute auf, sich gegen den Krieg aufzulehnen. „Es liegt nur an uns, diesen Wahnsinn zu beenden. Die Behörden können nicht alle einsperren.“

Die russischen Wissenschaftler, Juristen, Ärzte, Studierende sowie Einzelpersonen erheben durch ihre Aktionen ihre Stimme gegen den Krieg und die willkürliche Ausgrenzung russischer Personen. Sie zeigen der Welt, dass noch ein anderes Russland existiert und niemand aufgrund seiner Staatsangehörigkeit pauschal verurteilt werden darf. Dies würde Putins gefährliches Propagandanarrativ zusätzlich nähren.