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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Bundestagswahl
Programme statt Personen

Die Krise der Volksparteien ist kein Zufall. Sie folgt tiefen gesellschaftlichen Trends.
Der Bundestag in Berlin
© CC0 Public Domain/ pixabay.com

Die Würfel sind gefallen. Mit diesen Worten von Julius Cäsar beendete Markus Söder jene Auseinandersetzung um die Kanzlerkandidatur mit Armin Laschet, die er selbst vom Zaun gebrochen hatte. Es hörte sich so an, als habe die Union mit dieser Entscheidung die Tür zugeschlagen zu einem anständigen Wahlergebnis, weil sie jenen Kandidaten auf das Schild hob, der nach Umfragen die eindeutig geringere Popularität aufweisen kann als Markus Söder selbst.

Viele Beobachter teilen Söders Einschätzung der Lage – und an dem aktuellen demoskopischen Vorsprung von Söder gegenüber Laschet ist auch nicht zu zweifeln. Gleichwohl muss die Frage erlaubt sein, ob die Popularität von Persönlichkeiten tatsächlich heute in der Politik noch die gleiche Bedeutung hat wie früher. Viele behaupten dies. Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter und betrachten in der modernen Medienwelt die Attraktivität des Spitzenpersonals als die immer stärker dominierende Größe für die Wahlentscheidung der Menschen. Bei der machtvollen Show, die sich regelmäßig um Personalfragen rankt, mag dieses Urteil auch naheliegen. Ist es aber richtig?

Ein Blick auf den Trend der letzten fünf Bundestagswahlergebnisse sowie die Umfragen seither lässt Zweifel aufkommen. Seit 2002 verlor die ehemalige Volkspartei SPD massiv an Zuspruch – von 38,5 Prozent 2002 auf 20,5 Prozent 2017; in den jüngsten Umfragen liegt sie nur mehr bei 15 bis 17 Prozent. Auch bei der Union erodiert seit langer Zeit der Zuspruch. Zwischen 2002 und den aktuellen Umfragen liegt ein Aderlass von 10 Prozent. Lediglich im Gefolge der Staatsschuldenkrise 2011ff sowie der Corona-Krise 2020 konnte die Union ihren exekutiven „Kanzlerbonus“ als hauptverantwortliche Regierungspartei ausnutzen. Nur in diesen besonderen Phasen schlug die - stets hohe – Popularität von Angela Merkel voll auf die Union durch. Zu normalen Zeiten nutzte sie wenig: Die Union verlor im Trend an Boden, wenn auch zunächst viel weniger dramatisch als die SPD.

Bundestagswahlergebnisse
Die Bundestagswahlergebnisse der vergangenen Wahlen und aktuelle Prognosen für die kommende Wahl

Ganz anders die Lage bei den kleineren „Programmparteien“. Grüne und FDP, aber auch Die Linke und die scharf rechts hinzugekommene AfD hielten sich gut, wenn auch mit zum Teil starken Schwankungen, die durchweg auf hausgemachte Probleme zurückzuführen waren. Besonders dramatisch war dies bei der FDP, die 2013 vorübergehend sogar aus dem Bundestag flog. Diese vier Parteien haben sehr unterschiedliche Programme, und es steht außer Zweifel, dass sie in der Öffentlichkeit viel stärker als „Programmparteien“ wahrgenommen werden als CDU und SPD. Sie sind die Gewinner der Veränderung. Vor allem die Entwicklung bei Grünen und FDP in jüngster Zeit lässt aufmerken. Beide Parteien stehen innerhalb der breiteren politischen Mitte für dezidiert unterschiedliche Zukunftsprogramme: die Grünen für Klimapolitik, Ökologie sowie eine staatsgelenkte Transformation der Gesellschaft, die FDP für Marktwirtschaft, Digitalisierung sowie Rechtsstaat und Selbstverantwortung. Die Grünen nutzen dabei den Rückenwind eines verbreiteten Zeitgeists, der ihre Ideen trägt; die FDP stützt sich auf jene zunehmende Zahl von Menschen, die eine umfassende Modernisierung des Landes für dringend nötig halten.

Mit dieser Entwicklung – von den Volks- zu den Programmparteien – steht Deutschland übrigens nicht allein in Europa. Im Gegenteil, einige unserer Nachbarn haben diesen Prozess schon vor 30 Jahren hinter sich gebracht, beispielhaft etwa Dänemark und die Niederlande mit der drastischen Schrumpfung ihrer christ- und sozialdemokratischen Parteien. In Deutschland wurde dieser damalige Trend durch die große nationale Aufgabe der Deutschen Einheit deutlich abgebremst und später abermals durch die Finanz- und Schuldenkrise weiter verschoben. Jetzt setzt er mit Macht ein.

Und dies hat eine tiefe politische Logik. Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen beobachten schon lange, dass sich unsere Gesellschaft tendenziell aufspaltet – in viele unterschiedliche Blasen und Milieus, Lebensgefühle und Erfahrungswelten. Man mag dies sozial beklagen, aber es ist einstweilen eine Realität. Das politische Gegenstück dazu ist der Wandel hin zur Programmpartei, bei der die jeweiligen Führungspersönlichkeiten keineswegs wahlentscheidend sind. Man tritt Annalena Baerbock und Christian Lindner nicht zu nahe, wenn man sie nicht als die zentralen Motive für eine Wahl der Grünen oder der FDP ansieht. Entscheidend sind die Programme. Sie liefern die klar konturierten Alleinstellungsmerkmale – natürlich möglichst gut verkörpert durch die Spitzenkandidaten, die als „Markenpersönlichkeiten“, aber nicht als Solotänzer auftreten.

Es wird Zeit, dass dieser Trend deutschlandweit ernst genommen wird. Es könnte durchaus sein, dass die Unionsschlacht Laschet vs. Söder dereinst von Beobachtern als ein Anachronismus beurteilt wird, der sich im 21. Jahrhundert überlebt hat. Und das ist gut so. Denn in der Politik sollte es doch eigentlich vor allem um die programmatische Sache gehen. Und da gab es zwischen Laschet und Söder nichts zu wählen. Eine Rückkehr der Demokratien zum Kampf der Weltanschauungen um Wählerstimmen ist doch genau das, was eine pluralistische Gesellschaft braucht. Oder nicht?