Armuts- und Reichtumsbericht
Blinder Fleck
Hohe Wohnhäuser sind hinter dem Dach eines modernen Mehrfamilienhauses zu sehen.
© picture alliance / dpa | Matthias BalkEr wurde kaum wahrgenommen: der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Er erschien letzte Woche, fast unbemerkt von den Medien. Lediglich die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die ZEIT berichteten einigermaßen ausführlich darüber.
Dabei enthielt er eigentlich sensationelle Fakten. Die Ungleichheit der Vermögen hat sich in Deutschland seit den frühen 2010er Jahren moderat verringert, nicht erhöht. Eigentlich ein harmloses Ergebnis, gäbe es nicht das dominierende Vorurteil in der veröffentlichten Meinung und in der Breite der Bevölkerung, dass das Gegenteil der Fall war. Aber es ist nicht so. Die reichsten 10 Prozent verfügten damals über 59 Prozent des Vermögens, heute sind es 54 Prozent. Der Anteil der Haushalte mit negativem Vermögen ("Schulden") hat sich gleichfalls verringert, von 9 auf 6 Prozent.
Schlussfolgerung? Die Annahme ständig zunehmender Ungleichheit in unserer Gesellschaft ist falsch, jedenfalls für die Vermögensverteilung. Aber sie ist auch falsch mit Blick auf die Einkommensverteilung, die nicht Gegenstand des Berichts war: Der Gini-Koeffizient, der diese Ungleichheit misst (je höher, desto mehr Ungleichheit), ist über den Zeitraum einigermaßen konstant geblieben - und übrigens im internationalen Vergleich vor allem zu den USA immer noch niedrig.
Problem der Sache: Das will keiner hören. Denn es setzt ein dickes Fragezeichen hinter die Verzweiflungsschreie all jener, die unsere Gesellschaft auf dem abschüssigen Pfad immer größerer sozialer Schieflagen sehen - und das ist nicht nur die politische Linke, sondern zunehmend auch die populistische Rechte.
Dabei gibt es tatsächlich einen Grund zur Besorgnis. Aber der ist ganz anderer Art, als Linke und Rechte postulieren. Er lautet: Eine Gesellschaft, die immer "gleicher" wird, ist fast immer auch eine Gesellschaft, in der es an wirtschaftlicher Dynamik fehlt. In Deutschland war zum Beispiel das späte Kaiserreich eine Gesellschaft mit kraftvollem Wachstum von Produktivität und Einkommen durch Investitionen, technischen Fortschritt und Handelsintegration, aber eben auch eine Gesellschaft zunehmender Ungleichheit. Die Arbeiterschaft profitierte zwar stark, aber die Kapitalisten und Unternehmer noch stärker. Umgekehrt war die Zwischenkriegszeit mit der Weltwirtschaftskrise eine schlechte Zeit für Arbeitnehmer, aber, was die Einkommen betrifft, eine noch schlechtere für Kapitalisten und Unternehmer. Die Ungleichheit nahm ab. Die heutige Ära beginnt Ähnlichkeiten mit der Zwischenkriegszeit zu haben: weniger Ungleichheit erkauft mit Wachstumsschwäche.
Es wird Zeit, dass diese Zusammenhänge in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen und Konsequenzen gezogen werden. Sonst setzt sich der säkulare Niedergang fort - und wir erhalten dann mehr Gleichheit, aber keiner jubelt darüber, weil es niemandem besser und vielleicht sogar allen schlechter geht. Eine Zeitenwende, wirtschaftlich, das ist es, was wir brauchen. Ein großes Thema für Liberale!