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FREIHEIT +90
Zwischen zwei Welten

Yunus Ulusoy

Yunus Ulusoy

© Yunus Ulusoy

Im Rahmen unseres Projekts „Freiheit +90“, das vom FNF Büro in Istanbul ins Leben gerufen wurde, führen wir Interviews mit in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln. Ziel ist es, ihre persönlichen und inspirierenden Erfahrungen sowie ihre Perspektiven zu den Themen Identität, Zugehörigkeit, Migration und Liberalismus kennenzulernen und mit Ihnen als Leserinnen und Lesern zu teilen. Mit dieser zweiwöchentlich erscheinenden Interview-Reihe möchten wir einen tieferen Einblick in die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands und individuelle Lebensgeschichten ermöglichen.

Können Sie uns bitte Ihren beruflichen Werdegang in Deutschland schildern und erläutern, wie Ihr Beruf Ihr Leben hier beeinflusst?

Ich kam 1973 im Alter von neun Jahren im Zuge der Familienzusammenführung mit meiner Mutter nach Deutschland. 1984, inmitten der Rückkehrförderungskampagne der CDU-FDP-Regierung unter Helmut Kohl, machte ich mein Abitur. Damals kehrten viele Familien aus unserer Umgebung in die Türkei zurück, in der Hoffnung, mit Erspartem und der Auszahlung ihrer Rentenbeiträge ein besseres Leben zu beginnen. Diese Atmosphäre beeinflusste meine Studienwahl: Ich entschied mich für Wirtschaftswissenschaften, ein Fach, das ich als international einstufte, mit dem Hintergedanken, damit in der Türkei beruflich Fuß fassen zu können, wenn ich zurückkehren sollte.  

Als meine Mutter pflegebedürftig wurde und mein Vater erkrankte, musste ich mich – als einziges Kind in Deutschland – um die Pflege kümmern. Ich habe mich dann in Herne selbstständig gemacht, weil eine abhängige Beschäftigung mit der familiären Situation nicht vereinbar war. Nach dem Tod meiner Mutter führte eine Begegnung mit dem damaligen Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) dazu, dass ich 1997 zu meinem heutigen Arbeitgeber wechselte. Meine Biografie als Kind der Gastarbeitergeneration prägte meinen Werdegang und wurde, ohne ein bewusstes dahingehendes Streben, zu meiner Berufung.  

Dazu gehört, dass ich 1985 mit Freunden einen türkischen Fußballverein gründete, weil wir in deutschen Mannschaften oft wenig berücksichtigt wurden. Ab 1992 engagierte ich mich im Ausländerbeirat der Stadt Herne und übernahm 1995 dessen Vorsitz. Heute bin ich Programmverantwortlicher für den Bereich Transnationale Verbindungen Deutschland-Türkei am ZfTI, was meiner doppelten Identität als Deutscher und Türke Rechnung trägt. Mein berufliches und privates Netzwerk vermischt sich dabei oft, aus persönlichen Kontakten entstehen berufliche – und umgekehrt.

Welche Rolle spielen türkeistämmige Bürgerinnen und Bürger bei der Gestaltung der politischen Landschaft in Deutschland?

Die türkeistämmige Community verfügt heute über eine Migrationsgeschichte von über 63 Jahren. Meine familiäre Migrationsgeschichte geht auf das Jahr 1962 zurück. Aufgrund ihrer Größe und ihrer kulturell-religiösen Verortung stand die Gruppe türkeistämmiger Zugewanderter lange Zeit im Fokus von Integrationsdebatten, die häufig defizitorientiert geführt wurden.

Im letzten Jahrzehnt hat Deutschland eine neue Dimension der Zuwanderung erfahren, die die relative Bedeutung der türkeistämmigen Community sinken ließ. Gegenwärtig beträgt der Anteil der Türkeistämmigen unter allen Menschen mit Migrationsgeschichte (Destatis 2023) lediglich 11,7 Prozent. In den 1980er- und teils noch in den 1990er-Jahren machten Türkeistämmige mehr als ein Drittel der „ausländischen Bevölkerung“ aus, wie diese damals aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit bezeichnet wurde. In manchen Ruhrgebietsstädten betrug ihr Anteil über 60 Prozent.

Heute sind Türkeistämmige eine Bevölkerungsgruppe neben vielen anderen. Was sie gegenüber neueren großen Einwanderungscommunities (z. B. aus Polen, der ehemaligen Sowjetunion oder Syrien) unterscheidet, ist ihre „Deutschlandkompetenz“, die von Generation zu Generation weiterentwickelt wird. In zehn Jahren wird die vierte Generation das Bild der türkeistämmigen Community prägen.

„Deutschlandkompetenz“, Netzwerke, berufliche Entwicklung und Unternehmertum führen dazu, dass Türkeistämmige in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, insbesondere in der Politik, repräsentiert sind. Bei der letzten Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 wurden 19 Abgeordnete mit familiärer Migrationsgeschichte aus der Türkei in den Bundestag gewählt. Das entspricht einer höheren Repräsentation als ihrem Anteil an allen Wahlberechtigten. Auch in kommunalen und Landesparlamenten sowie auf verschiedenen Parteiebenen sind Türkeistämmige vertreten. Sie sind heute ein integraler Bestandteil der politischen Landschaft in Deutschland.


Wie können politische Bewegungen oder Parteien besser mit dieser Gemeinschaft zusammenarbeiten?

Trotz der hohen Repräsentanz in Parlamenten liegt die Wahlbeteiligung der Türkeistämmigen noch unter der autochthonen Deutschen. Zudem sind nicht alle Milieus der türkeistämmigen Community in der politischen Landschaft aktiv, insbesondere sind religiös-konservative Türkeistämmige unterdurchschnittlich in politischen Parteien vertreten. Dies führt dazu, dass aus diesen Kreisen, insbesondere in den urbanen Zentren, bei Kommunalwahlen parteiunabhängige Listen antreten, besonders in NRW (Nordrhein-Westfalen).

In diesem Kontext ist auch die Gründung der DAVA-Partei zu verorten, die diese Kreise ansprechen möchte. Politische Bewegungen oder Parteien können Kandidatinnen und Kandidaten bzw. Mandatsträgerinnen und Mandatsträger als Kommunikationsbrücke zur migrantischen Community nutzen, sofern diese in der Mitte der Community bekannt sind und nicht nur partikulare Gruppen ansprechen. Effektiver wäre daher eine nachhaltige Zusammenarbeit bzw. Vernetzung mit migrantischen Organisationen, wozu auch die offene Ansprache von Unterschieden gehört.

Zudem können Parteien ihre Themen und ihr Spitzenpersonal über soziale Medien, türkische Medien, insbesondere Anzeigenblätter, und türkeistämmige Influencerinnen und Influencer in den jeweiligen Communities platzieren. Besonders die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten sollten im Wahlkampf mit Themen die Ansprache suchen, die den transnationalen Lebensraum und die Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten betreffen. Denkbar wäre auch eine stärkere Repräsentanz in den Einwanderervierteln zu gewährleisten – wenn nicht über Parteistrukturen, dann durch Personen, die interkulturelle Kommunikationskompetenz besitzen, und über Patenschaftsprogramme, um junge Menschen in die Parteien zu integrieren.

Was sind die größten Herausforderungen und Chancen für die türkische Diaspora in Bezug auf Integration?

Das öffentliche Bild ist noch von defizitorientierten Zuschreibungen geprägt, die die Lebenswirklichkeit von Türkeistämmigen nicht mehr abbilden. In der vierten Generation von Integration zu sprechen, passt nicht zur inländischen Sozialisation der nachfolgenden Generationen, da rund 53 % der Türkeistämmigen im Jahr 2023 keine Migrationserfahrung mehr hatten. Erforderlich ist daher mehr Chancengerechtigkeit in der Teilhabe am Bildungssystem, im Arbeitsmarkt und im sozialen Leben sowie eine Kultur der Akzeptanz, die die Menschen als integralen Teil der Gesellschaft betrachtet – wozu auch eine emotionale „Wir“-Ansprache gehört.

Allerdings machen sich viele dieser Menschen, insbesondere die jüngere Generation, Sorgen über ihre Zukunft in Deutschland, vor allem durch das Erstarken des Rechtspopulismus. Das Abwenden von mehr als einem Viertel der Bevölkerung von der demokratischen Mitte ist die größte Integrationsherausforderung und zugleich die Achillesferse der deutschen Demokratie und des Zusammenlebens in Deutschland insgesamt.

Wenn Sie eine Initiative vorschlagen könnten, um die Beziehungen zwischen türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürgern und der deutschen Gesellschaft zu stärken, welche wäre das und warum?
Die Frage unterstellt eine Distanz und Mauer, die der heutigen Lebenswirklichkeit von Türkeistämmigen der nachfolgenden Generationen nicht entspricht. Wenn überhaupt sollte gewürdigt werden, dass multiple Identitäten und transnationale Verbindungen in der globalisierten und digitalen Welt eine Kompetenz und ein Standortvorteil sind, die nicht die Zugehörigkeit zu Deutschland infrage stellen, sondern Deutschland im internationalen Wettbewerb vielmehr stärken können. Menschen, die in der dritten oder vierten Generation hier sind, benötigen ein Klima der Akzeptanz und Chancengleichheit. Ein Problembereich, auf den Türkeistämmige zwar keinen direkten Einfluss haben, der aber ihre Lebenswirklichkeit in Deutschland beeinflussen kann, sind die Verwerfungen in den bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Dies sollten alle handelnden Politikerinnen und Politiker beider Länder berücksichtigen, wenn sie bilaterale Dissense austragen.

Was sind die größten wirtschaftlichen Herausforderungen für die türkisch-deutsche Diaspora?

Trotz zunehmender Erfolge im Bildungs- und Arbeitsmarkt liegen die Anteile der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss sowie der Erwerbstätigen ohne berufliche Qualifikation bei türkeistämmigen Menschen weiterhin über dem Niveau von Deutschen ohne Migrationsgeschichte. Auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist vergleichsweise gering, was ihre wirtschaftlichen Teilhabechancen einschränkt. Dennoch zeigt sich bei Türkeistämmigen in den letzten Jahren eine positive Entwicklung, die langfristig zu einer Angleichung führen dürfte – insbesondere angesichts des Fachkräftemangels und der bevorstehenden Verrentung der Babyboomer-Generation.

Wie tragen türkeistämmige Unternehmerinnen, Unternehmer und Unternehmen zur deutschen Wirtschaft bei?

Türkeistämmige Unternehmerinnen und Unternehmer leisten einen bedeutenden Beitrag zur deutschen Wirtschaft. Mit über 112.000 Selbständigen stellen sie die größte Gruppe mit Migrationsgeschichte in der unternehmerischen Landschaft Deutschlands dar. Im Gegensatz zu früheren Generationen, die oft überwiegend auf spezifische Branchen wie Gastronomie oder Einzelhandel beschränkt waren, sind sie heute in nahezu allen Sektoren der Wirtschaft vertreten. Ihre Unternehmen zeichnen sich durch Innovationskraft und ein starkes Wachstum aus, das nicht selten von den Nachfolgegenerationen weitergeführt wird.

Diese Unternehmen schaffen nicht nur Arbeitsplätze und zahlen Steuern, sondern fördern auch die regionale und nationale Wirtschaft. Zudem tragen viele von ihnen durch ihre Exportaktivitäten das Gütesiegel „Made in Germany“ in die Welt. Ihr Erfolgsgeheimnis liegt in der Verbindung von Ordnungssinn und Qualität mit Flexibilität und Kundenorientierung. Diese Verbindung steht im Zusammenhang mit ihrer kulturellen Vielfalt.  Durch diese Eigenschaften prägen sie einen modernen Unternehmerinnen- und Unternehmertypus und tragen wesentlich zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration bei.

Welche politischen Maßnahmen könnten Ihrer Meinung nach das Unternehmertum in dieser Gemeinschaft fördern?

Die Politik könnte den Abbau bürokratischer Hürden, die schnellere Anerkennung von ausländischen Abschlüssen, effektivere Unterstützung bei der Gewinnung von ausländischen Fachkräften sowie ein Förderungs- und Beratungssystem vorantreiben, das die demografische Entwicklung stärker berücksichtigt. Dieses System sollte über interkulturelle Kompetenz in der Zielgruppenansprache verfügen, um die Rahmenbedingungen für die Stabilisierung und Förderung des Wachstums von Unternehmen und Gründungen von Migrantinnen und Migranten zu verbessern. 

Wie nehmen Sie den Liberalismus in Deutschland wahr? Und was könnten liberale Parteien tun, um Menschen mit türkischem Hintergrund besser zu erreichen?

Für meine Generation war die FDP als liberale Partei lange Zeit ein Garant sowie Korrekturfaktor in der Politik, insbesondere in Bezug auf Integrationspolitik und die deutsch-türkischen Beziehungen. Besonders erinnere ich mich an Frau Liselotte Funcke, die als Beauftragte der Bundesregierung tätig war, sowie an Cornelia Schmalz-Jacobsen. Ich kann mich auch gut an Klaus Kinkel und seine Initiativen erinnern, die darauf abzielten, die FDP gegenüber Türkinnen und Türken zu öffnen. Danach klaffte jedoch lange eine Lücke, die zuletzt Joachim Stamp als Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration im Bundesland NRW schließen konnte.

Die Wahrnehmung in der Bevölkerung ist meiner Einschätzung nach heute, dass die FDP inzwischen eher restriktiv in der Migrationspolitik agiert und die Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte, auch wenn Bijan Djir-Sarai als Generalsekretär hier Akzente setzen wollte, nicht offensiv verfolgt. Bereits jetzt machen Menschen mit Migrationsgeschichte mehr als 14 Prozent der Wahlberechtigten aus, und ihre Bedeutung wird aufgrund der demografischen Entwicklung weiter zunehmen. Die FDP, als liberale und weltoffene Partei, sollte mit entsprechenden Inhalten und Gesichtern in diesen Wählerinnen- und Wählergruppen, darunter auch unter Türkeistämmigen, stärker präsent sein. Ich sehe hier einen Nachholbedarf im Vergleich zu anderen politischen Mitbewerbern.   

Wir werden unsere Beiträge auf Freiheit+90 regelmäßig mit neuen Geschichten und Interviews fortsetzen! Unser nächstes Interview werden wir sowohl über unsere Social-Media-Kanäle als auch über unsere Website ankündigen!