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Auslandsakademie 2025
Tanz über den Dächern Casablancas — wie Marokkos Jugend ihr Land verändert

Auslandsakademie 2025

Nach zwei aufregenden und lehrreichen Tagen in Rabat geht es heute mit dem Bus nach Casablanca. Da das marokkanische Essen nicht spurlos an allen von uns vorbeigegangen ist, nutzen wir die notwendigen Zwischenstopps, um auch die ländlichere Gegend abseits der Autobahn zu erkunden. Während wir an einer Tankstelle irgendwo im Nirgendwo stehen und fasziniert einen Hund auf dem Dach beobachten (scheinbar haben die Katzen eher in Städten das Sagen), fährt auf einmal hinter uns ein Konvoi entlang, der vermutlich dem König von

Marokko gehört. So etwas passiert halt an der Raststätte zwischen Rabat und Casablanca.

Etwa 1,5 Stunden lang folgen wir der Autobahn entlang des Ozeans, dann empfangen uns die ersten Außenbezirke von Casablanca.

Casablanca lässt die wuselige Medina von Rabat erscheinen wie eine entspannte Wellness- Oase. Hier leben auf weitaus weniger Fläche als in Berlin fast genauso viele Menschen!

Innerhalb weniger Meter finden sich neben den baufälligsten Baracken modernste und schönste Gebäude. Von Prachtalleen mit Palmen und weitläufigen Fußwegen zweigen winzige Gassen ab, in denen auf jeder Etage Wäsche aus den Fenstern hängt. Schicke

Restaurants mit aufwändigen Wintergärten wechseln sich ab mit Kramläden, die im Grunde nur eine Öffnung in einer beschmierten Hauswand sind.

Unser Programm wird heute durch eine große Verzögerung beim Mittagessen leider sehr nach hinten verschoben. Mit deutlicher Verspätung treffen wir beim American Arts Center ein, wo wir dankenswerterweise trotzdem eine wirklich interessante Veranstaltung mit unseren Gastgeberinnen und Gastgebern Ibtissam und Ricky vom American Arts Center und Mohamed von den Olive Writers erleben dürfen. Erneut wird hier der Kontrast zwischen den Facetten

Marokkos sehr deutlich, der uns schon zuvor oft aufgefallen ist: Während die ausgestellte Kunst durchaus Missstände in der Gesellschaft ansprechen und offenlegen soll, befinden sich die Kuratorinnen und Kuratoren dauerhaft auf einer Gratwanderung, diejenigen Kunstwerke auszuwählen, die trotzdem nicht zu gesellschaftlich anstößig sind oder zu politischen Problemen führen könnten. Veränderung geschieht hier eher in kleinen Schritten. Dennoch nehmen wir mit: „In der Kunst ist in Marokko mehr Freiheit möglich als in der Politik oder vielleicht jedem anderen Bereich.“ (Vagt et al.)

Sicherlich ist es generell nicht so leicht, jede kulturelle Norm oder Konvention auf einmal anzuprangern. Einige Traditionen oder Institutionen, die uns befremdlich vorkommen mögen, sind auch einfach nicht zwangsläufig änderungsbedürftig, wenn man einen großen Teil der Gesellschaft hierzulande fragt. Aber es ist faszinierend, dass die Kunst auch in

Marokko eine so große Bedeutung für die aktuellen Transformationen hat, um subtil aber stetig das kollektive Bewusstsein zu beeinflussen und verändern.

Auslandsakademie

Bei unserer anschließenden Tour durch das Museum sehen wir faszinierende und schöne Kunstwerke; wir erfahren, woher die Friedrich-Naumann-Stiftung ihre Bilder fürs Büro in Rabat bezieht, und auf dem Dach dürfen wir einer Gruppe junger Breakdancerinnen Und Breakdancern beim Proben zusehen. Das hier, das haben uns Ibtissam und Mohamed bereits verraten, ist eines ihrer Lieblingsprojekte, denn Tanz ist eine abstrakte Sprache, die trotzdem jeder versteht und die uns alle berührt. Deshalb dürfen Tänzerinnen und Tänzer jeglicher stilistischen Richtung umsonst in den Räumlichkeiten des American Arts Center proben.

Als Nächstes geht es mit leichten Navigationsschwierigkeiten im hektischen Verkehr von Casablanca weiter zum Forum de la Citoyenne. Unsere Gastgeberinnen und Gastgeber verlieren kein Wort über unsere inzwischen fast zweistündige Verspätung, sondern wir werden ausführlich und herzlich begrüßt — sogar ein eigenes Buffet mit Keksen, Petit Fours und verschiedenen

Getränken haben sie für uns aufgebaut. Neben Direktor Mastour und Professor Khomri nehmen an der Konferenzrunde auch zahlreiche Mitglieder der Jugendorganisation des Forums teil. Die typisch marokkanische Verhandlungsweise mit eher ausschweifenden Begrüßungsrunden und unverbindlichen Aussagen (zumindest sind wir heute nur bis zu

diesem Punkt vorgedrungen) ist für viele von uns erst einmal gewöhnungsbedürftig. Mit unserer direkten (und vielleicht etwas rabiaten) Fragetechnik kommen wir hier nicht so weit, wie wir uns das vorstellen würden. Doch gerade während des informellen Austausches am Buffet erhalten wir wertvolle Einblicke in die Ansichten unserer Gastgeberinnen und Gastgeber.

Es ist wirklich spannend, wie die Entwicklung der marokkanischen Demokratie aus Sicht der Menschen vor Ort bewertet wird. Beispielsweise erfahren wir, dass es vor der

marokkanischen Ausprägung des Arabischen Frühlings, der weitgehend gemäßigten und gewaltfreien Bewegung des 20. Februar 2011, nahezu keine Partizipation der Jugend zu

politischen Themen gegeben hatte — zumindest keine, die gesamtgesellschaftlich als solche wahrgenommen wurde. Insbesondere, nachdem wir in den letzten Tagen in Rabat zahlreiche junge Menschen mit den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Projekten kennenlernen durften — nicht zuletzt die Youth Taskforce der FNF Marokko — hat es uns

sehr beeindruckt, dass all dieses Engagement in so kurzer Zeit aufgeblüht ist. Insgesamt wird deutlich, dass auch im Zusammenhang des Forum Citoyenne Veränderungen in kleineren

Schritten gedacht und angestoßen werden. Das scheint unsere Gastgeberinnen und Gastgeber aber nicht zu stören. Im Gegenteil, sie sind stolz auf die Erfolge, die sie bereits vorweisen können und auf die bedachte und wenig brachiale Art und Weise, wie insbesondere junge Marokkanerinnen und Marokkaner ihr Land und ihre Gesellschaft beeinflussen.

Den Abend lassen wir mit einem traditionellen marokkanischen Essen ausklingen. Bei Dar Dada gibt es eine Teezeremonie, Tanz und vor allem: richtig viel leckeres Essen. Leider schaffen wir es doch nicht mehr, die Hassan-II.-Moschee zu besuchen, aber die Medina bei Nacht ist trotzdem wunderschön.

Kulinarisches Fazit des Tages: Das beste Essen in Marokko ist marokkanisch und man wird garantiert immer satt!

Politisches Fazit des Tages: Marokko bietet seiner Jugend Safe Spaces und Thinktanks, um über gesellschaftliche Probleme und Wandel zu diskutieren —ob auf künstlerische oder

direkte Art und Weise — und Wünsche und Vorstellungen zu formulieren. Aber während das über den Dächern Casablancas relativ unproblematisch geht, sieht die Realität auf der Straße oft noch anders aus. Die goldene Mitte zwischen diesen beiden Seiten der Medaille zu

finden, daran arbeiten aktuell sehr viele unglaublich engagierte Menschen in den

verschiedensten Projekten. Wir freuen uns darauf, in den nächsten Tagen noch mehr davon zu erleben.