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Erfolgreiche EU-Vermittlung
Innenpolitische Krise in Georgien beendet?

Auch größte Oppositionspartei beendet Parlamentsboykott
Das georgische Parlament
Das georgische Parlament © Parliament.ge

Am 8. Juni haben auch die Abgeordneten der „Vereinigten Nationalbewegung“ („United National Movement“ – UNM) ihren Boykott beendet und nahmen erstmals an einer Parlamentssitzung teil. Nachdem jetzt die UNM als größte Oppositionspartei angekündigt hat, sich an der parlamentarischen Arbeit zu beteiligen, bestehen Chancen, dass in Georgien die schwere innenpolitische Krise überwunden werden kann. Nahezu alle georgischen Oppositionsparteien hatten nach den Wahlen im Oktober vergangenen Jahres wegen Wahlmanipulation zunächst die Annahme ihrer Mandate verweigert und damit die Parlamentsarbeit teilweise blockiert. Mit Hilfe der Europäischen Union war am 27. April ein erster Durchbruch erzielt worden: Vertreter einiger Oppositionsparteien zogen mit ihren Mandaten in das georgische Parlament ein. Dies war ein erster Schritt, das Land aus seiner innenpolitischen Krise zu führen. Ein Erfolg, der maßgeblich auf der Mediation vor allem des Liberalen Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, beruht - nachdem zuvor sämtliche Bemühungen, zwischen den Lagern einen Kompromiss auszuhandeln, gescheitert waren.

Nach fast sechsmonatigem Boykott fand am 27. April eine erste Parlamentssitzung unter Beteiligung von Teilen der Opposition statt. Zu den Oppositionsabgeordneten, die das von der Europäischen Union vermittelte Abkommen mit der Regierungspartei „Georgian Dream“ unterschrieben haben und an der Sitzung teilnahmen, gehörten Vertreter der folgenden Parteien: „Lelo“, „Strategy Agmashenebeli“, „Republikanische Partei Georgiens“, „Girchi - More Freedom“ (seit März arbeiten diese Parteien mit Hilfe der Friedrich-Naumann-Stiftung an einer gemeinsamem Liberalen Plattform) sowie Einzel-Abgeordnete von „United National Movement“ und „European Georgia“. UNM, die größte Oppositionspartei, die bei den Wahlen im vergangenen Oktober 36 Mandate erreichte, sowie die Parteien „European Georgia“ und „Labour Party“ hatten das mit Hilfe der EU ausgehandelte Abkommen nicht unterzeichnet und nahmen an dieser Sitzung nicht teil. Sie und ebenso einzelne Vertreter anderer Parteien forderten als Voraussetzung für die Annahme ihrer Mandate auch die Freilassung von UNM-Parteichef Nika Melia.

Gemäß dem von der EU vermittelten Abkommen sollte schnellstmöglich ein Amnestiegesetz für Verurteilungen aufgrund der Proteste im Juni 2019 verabschiedet werden, das auch zur Freilassung von Nika Melia führen sollte. In einem weiteren Schritt sollte die Präsidentin von Georgien, Salome Zurabishvili, auch den Mit-Begründer des oppositionellen Fernsehsenders „Mtavari“ Giorgi Rurua begnadigen. Melia und Rurua werden von der Opposition als politische Gefangene betrachtet, deren Freilassung neben vorgezogenen Neuwahlen eine Hauptforderung der Opposition zur Annahme ihrer Mandate war. Dass mit der Beendigung des Parlamentsboykotts am 27. April durch einige Oppositionsabgeordnete noch kein Ende der polarisierten Situation erreicht war, zeigten die Proteste beim Betreten des Parlaments, als diese Oppositionsabgeordneten als Verräter und Sklaven bezeichnet wurden. Eine Beruhigung der aufgeheizten innenpolitischen Situation und der tiefen Spaltung der georgischen Gesellschaft war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Sicht. Auch wenn es bei den letzten Parlamentswahlen dank der Ein-Prozent-Wahlhürde zahlreiche kleinere Parteien ins Parlament geschafft haben, ist die Partei von Ex-Präsident Micheil Saakaschwili die stärkste Oppositionspartei.

Der zukünftige Weg für Georgien
Das ausgehandelte Dokument "Der zukünftige Weg für Georgien" © Source: interpressnews.ge  

EU-Vermittlung: „Der zukünftige Weg für Georgien“

Seit März 2021 versuchten Charles Michel und sein Bevollmächtigter Christian Danielson ein Abkommen zu vermitteln, zunächst erfolglos. Der Präsident des Europäischen Rates legte dann am 18. April in Tiflis ein neues Vorschlagspaket vor, in dem zwei Punkte aufgeführt sind, an denen die Verhandlungen bis dahin scheiterten: die Freilassung politischer Gefangener (aus Sicht der Opposition; die Regierungspartei bestreitet, dass es politische Gefangene gibt) und vorgezogene Parlamentswahlen, was vom „Georgian Dream“ bis dahin kategorisch abgelehnt wurde. Es galt einen Kompromiss zu finden, der die Regierungspartei einerseits das Gesicht wahren lässt, andererseits die Forderungen der Opposition erfüllt. Wie sieht nun das Abkommen mit dem Titel „Der zukünftige Weg für Georgien“ im Einzelnen aus? In georgischen Medien wurden dazu fünf Punkte veröffentlicht:

1. Politische Justiz: Eine der Hauptforderungen der Opposition war, dass die beiden verhafteten Oppositionspolitiker Nika Melia und Giorgi Rurua freigelassen werden müssen. Ihre Namen werden im Abkommen zwar nicht direkt genannt, im Dokument heißt es aber, dass „im Interesse der politischen Stabilität in Georgien“ die Parteien, die das Dokument unterzeichnet haben, „innerhalb einer Woche auf zwei Fälle reagieren müssen, die als politische Justiz angesehen werden". Voraussetzung für die Umsetzung dieser Bestimmung sei, dass alle, die das Dokument unterzeichnen, wieder im Parlament arbeiten müssen.

2. Wahlreform: Die nächsten Parlamentswahlen sollen vollständig proportional abgehalten werden, bei einer Prozenthürde von zwei Prozent. Die für Herbst 2021 geplanten Kommunalwahlen werden nach folgendem System abgehalten: In fünf großen Städten (Tiflis, Kutaissi, Batumi, Rustavi, Zugdidi) werden die Sitze nach dem 4:1-Prinzip zwischen Proportional- und Mehrheitsmandaten aufgeteilt. In den anderen Teilen des Landes beträgt dieser Anteil 2:1. In Tiflis liegt die Wahlhürde bei 2,5 Prozent, im Rest des Landes bei drei Prozent. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission wird mit zwei Drittel der Stimmen der Abgeordneten des Parlaments gewählt. Der stellvertretende Vorsitzende muss ein Vertreter der Oppositionspartei sein.

3. Justizreform: Eine Justizreform soll in Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition innerhalb der laufenden Wahlperiode verabschiedet werden. Zu den wichtigsten Punkten zählen eine Änderung der Regel für die Ernennung von Richtern des Obersten Gerichtshofs und eine Reform des Hohen Justizrates. Die Änderungen wirken sich auch auf die Generalstaatsanwaltschaft aus. Insbesondere muss die Ernennung des nächsten Generalstaatsanwalts von einer qualifizierten Mehrheit der Abgeordneten genehmigt werden.

4. Machtverteilung im Parlament: Oppositionsvertreter sollen fünf parlamentarische Ausschüsse leiten. Oppositionsabgeordnete werden parlamentarische Delegationen leiten, die Georgien in wichtigen internationalen Foren vertreten, insbesondere in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Der Prozess der Neuverteilung der Befugnisse im Parlament sollte innerhalb einer Woche nach Unterzeichnung beginnen, damit die Änderungen unmittelbar nach der Einberufung der Herbstsitzung von 2021 wirksam werden.

5. Vorgezogene Parlamentswahlen: Vorgezogene Parlamentswahlen sollen stattfinden, wenn die Regierungspartei „Georgian Dream“ bei den Kommunalwahlen im Herbst 2021 weniger als 43 Prozent der Stimmen erhält. Die Parteien sollten die Bewertung von OSZE / ODIHR berücksichtigen, in der die Parlamentswahlen am 31. Oktober 2020 zwar als „in einem Wettbewerbsumfeld abgehalten und unter Wahrung der Grundfreiheiten im Allgemeinen“ bewertet wurden. Es müssen jedoch auch die Vorwürfe des Drucks und die Einflussnahme auf die Wähler anerkannt werden. Die Parteien erkennen an, dass sie die Wahlen 2020 unterschiedlich bewerten und vereinbaren im Interesse der politischen Stabilität in Georgien und zur Umsetzung an den bevorstehenden Wahlen auf der Grundlage der oben vereinbarten Wahlreform teilzunehmen.

Unterzeichnungszeremonie des Dokuments
Unterzeichnungszeremonie des Dokuments © metronome.ge

Die EU-Delegation in Georgien begrüßte Ende April den Einzug der (ersten) Oppositionsabgeordneten und forderte auch in Hinblick auf die UNM alle anderen gewählten Abgeordneten auf, sich dem Abkommen anzuschließen und zu dessen Umsetzung beizutragen: „Wir begrüßen die Entscheidungen, die die politischen Führer Georgiens heute im Einklang mit der am 19. April getroffenen Einigung getroffen haben, sehr. Heute sind Unterzeichner von Oppositionsparteien ins Parlament eingetreten, um im Namen der georgischen Bürger an parlamentarischen Geschäften teilzunehmen. Gemeinsam haben die Regierungs- und Oppositionsparteien einen neuen Sprecher gewählt und erarbeiten Gesetzesentwürfe, um die Wahrnehmung politisierter Gerechtigkeit anzugehen. Die Präsidentin von Georgien nutzte ihre verfassungsmäßigen Befugnisse, um die Umsetzung dieser Verpflichtung zu unterstützen. Dies waren schwierige Entscheidungen, die erheblichen politischen Mut erforderten. Wir freuen uns auf die nächsten Schritte zur weiteren Umsetzung des Abkommens im Einklang mit den vereinbarten Fristen, um die demokratische und rechtsstaatliche Agenda Georgiens voranzutreiben. Wir fordern alle anderen gewählten Abgeordneten erneut auf, sich dem Abkommen anzuschließen und im Interesse Georgiens, seiner Bürger, der Beziehungen zwischen der EU und Georgien und der euro-atlantischen Zukunft Georgiens zu dessen Umsetzung beizutragen.“

Bereits am Abend des 27. April begnadigte die georgische Präsidentin Zurabishvili den Mitbegründer des Oppositionskanals „Mtawari TV“ und schieb in den sozialen Netzwerken: „Ich begrüße die Erfüllung der ersten Phase der Vereinbarung! Ich für meinen Teil habe mein Wort gehalten und das Begnadigungsgesetz unterschrieben! (…) Herzlichen Glückwunsch an alle Abgeordneten, die heute zum ersten Mal das vom Volk erteilte Mandat wahrgenommen haben und ins Parlament eingezogen sind! Ich wünsche Ihnen allen viel Glück!", so die georgische Präsidentin.

Nika Melia
Nika Melia © Offizielles Facebook-Profil

Der Fall Nika Melia

Es dauerte noch etwa zwei weitere Wochen, bis der UNM-Vorsitzende Nika Melia aus dem Gefängnis entlassen wurde, nachdem die Europäische Union eine Kaution von umgerechnet etwa 10.000 Euro bezahlt hatte. Das Geld wurde von „European Endowment for Democracy“, einer von der Europäischen Union gegründete Organisation zur Unterstützung zivilgesellschaftlicher Gruppen in an die EU angrenzenden Ländern, zur Verfügung gestellt und dann an die „Georgian Young Lawyers' Association“ (GYLA) übergeben, die diese Summe dann an die Behörden überwies.

Melia wird beschuldigt, im Juni 2019 während der großen Protestdemonstration zur Gewalt angestiftet zu haben. 2019 wurde Melia zunächst festgenommen und nach Zahlung von etwa 7.500 Euro freigelassen und musste ein elektronisches Überwachungsarmband tragen. Im November 2020 nahm Melia während einer Demonstration das Armband öffentlich ab, warf es in Menge und bezeichnete es als ein Symbol der Ungerechtigkeit. Als Reaktion darauf erhöhte die Staatsanwaltschaft die Kaution von Melia um weitere etwa 10.000 Euro, die er sich weigerte zu zahlen, was später der Grund für seine Festnahme war. Einige Tage vor seiner Verhaftung hatte ihm das Parlament seinen Abgeordnetenstatus entzogen. Diese Festnahme führte auch zum Rücktritt des damaligen Premierministers Giorgi Gakharia, der gegen eine Festnahme des UNM-Vorsitzenden war.

Charles Michelle Reform Group
Die neu gebildete Fraktion „Charles Michel Reform Group“ © interpressnews.ge

Fraktionen, Parteiaustritte, neue Parteien

Aus insgesamt 150 Abgeordneten besteht das Parlament Georgiens. Die Parlamentswahlen vom Oktober ergaben folgende Sitzverteilung: „Georgian Dream“ – 90, UNM – 36, „European Georgia“ – 5, „Lelo“ – 4, „Allianz der Patrioten“ – 4, „Girchi“ – 4, „Strategy Aghmashenebeli“ – 4, „Bürger“ – 2, „Arbeiterpartei“ – 1. Nach zahlreichen Parteiaus- und Übertritten ist es nicht ganz einfach, die genaue Partei- und Fraktionszugehörigkeit exakt und Tag-genau aufzuschlüsseln:

- Georgian Dream: Mindestens sechs Abgeordnete verließen die Partei und sehen sich mit dem ehemaligen Premierminister Giorgi Gakharia innerhalb seiner neu gegründeten Partei „For Georgia“ verbunden.

- Allianz der Patrioten: Drei der vier gewählten Abgeordneten, unter ihnen die Parteichefin Irma Inaschwili, hatten die Annullierung ihrer Mandate beantragt, der verbliebene Abgeordnete sowie die drei Nachrücker auf der Parteien-Liste traten aus der Partei aus und gründeten die „Europäische Sozialistische Partei Georgiens“ und nehmen ihre Mandate war.

- Fraktion „Vereinte Nationale Nationalbewegung – Vereinigte Opposition – Stärke in der Einheit“: Die künftige UNM-Fraktion wird aus 32 Mitgliedern (anstatt 36) bestehen. Zwei haben die Partei verlassen und gehören anderen Fraktionen an. Nicht dabei sind auch die zwei Abgeordneten der Republikanischen Partei Georgiens, die Kandidaten auf der gemeinsamen Wahlliste waren. Khatuna Samnidze gehört einer anderen Fraktion an, Tamar Kordzaia möchte als unabhängige, fraktionslose Abgeordnete eigene politische Wege gehen.

- Fraktion „Charles Michel Reform Group“: Acht Oppositionsabgeordnete haben sich in dieser Fraktion zusammengeschlossen. Vorsitzender der Fraktion ist Khatuna Samnidze (Vorsitzende der Republikanischen Partei Georgiens), der stellvertretende Vorsitzende ist Paata Manjgaladze (Strategy Aghmashenebeli).

- Fraktion „Lelo – Partnerschaft für Georgien“: Diese Fraktion besteht aus sieben Mitgliedern – vier Lelo-Abgeordnete und zwei, die über die „European Georgia“-Parteiliste gewählt wurden sowie ein ehemaliges UNM -Mitglied.

Khatuna Samnidz
Khatuna Samnidze, Fraktionsvorsitzende der Fraktion „Charles Michel Reform Group“, hier im Gespräch mit William Townsend, Generalsekretär der „Liberalen Internationale“ © FNF South Caucasus

Den Eintritt von UNM ins Parlament kommentierte der „Georgian Dream“-Parteivorsitzende folgendermaßen: „Ins Parlament einzutreten, ohne das Dokument von Charles Michel zu unterzeichnen, hat keinen Wert. Die UNM muss das Abkommen definitiv unterschreiben, sonst wird unsere Reaktion hart sein. Wenn sie das Michel-Dokument nicht unterschreiben, können sie die dort vereinbarten Privilegien auch nicht nutzen.“ Der Standpunkt der UNM bleibt jedoch, das Abkommen nicht zu unterschreiben. Kritikpunkt ist vor allem die geplante Amnestiegesetzgebung.

Auch wenn es mehr als ein halbes Jahr dauerte, bis nahezu alle gewählten Abgeordneten ins Parlament eingezogen sind - zur Beseitigung des innenpolitischen Chaos‘ im Land wäre ein weiterer Schritt getan, wenn jetzt die politische Diskussion von der Straße ins Parlament verlegt wird und aus dem quasi Ein-Parteien-Parlament eine Vertretung wird, in der die verschiedenen Parteien, Fraktionen, Strömungen gemeinsam nach Lösungen suchen. Trotz aller im Raum stehenden Manipulationsvorwürfen bei den letzten Wahlen darf nicht vergessen werden, dass es in jüngster Vergangenheit keine derartige parlamentarische Vielfalt gab.

Ein Hoffnungsschimmer: In der nun ersten Parlamentssitzung, wo alle vertreten waren, wurde ein Papier, dass das Bekenntnis zu einer zukünftigen NATO-Mitgliedschaft Georgiens zum Ausdruck bringt, von allen Fraktionen unterzeichnet.

 

Götz-Martin Rosin, freier Journalist

Peter-Andreas Bochmann, Projektleiter Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Südkaukasus