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Jugend & Politik
Zwischen Hoffnung und Distanz – Marokkos Jugend und ihre Rolle in der Politik

parlament marrokish

Das marokkanische Parlament, zu Ehren des "Festes der Jugend" beflaggt @Kaan Gümüs

Es ist noch etwa ein Jahr bis zu den nächsten Parlamentswahlen in Marokko im September 2026. Die Marokkaner haben erneut die Möglichkeit über die Zukunft ihres Landes zu bestimmen – und darüber, wer das Land regiert, wenn 2030 die Fußball-Weltmeisterschaft im nordafrikanischen Königreich stattfindet. Diese einzigartige Gelegenheit möchte Marokko nutzen, um sich als modernes und inklusives Land zu präsentieren. Das kann indes nur gelingen, wenn auch die Jugend mitzieht: Über die Hälfte der marokkanischen Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt. Damit zählt Marokko, bezogen auf die Bevölkerung, zu den eher jüngeren Ländern vor allem im Vergleich zu Deutschland, wo das Durchschnittsalter 2023 bei 44,6 Jahren lag. Die Jugend Marokkos ist sein größtes Kapital – und seine größte Aufgabe. Sie ist ein Versprechen auf Fortschritt, das nur eingelöst werden kann, wenn junge Stimmen nicht nur gehört, sondern auch gehört werden wollen.

 Politikverdrossenheit in Marokko

 Bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2021 lag die Wahlbeteiligung bei ca. 50%. Diese 50% beziehen sich jedoch nicht auf die erwachsene und wahlberechtigte Bevölkerung, so wie in Deutschland, sondern auf diejenigen, die sich bereits im Vorfeld aktiv für die Wahlen registriert haben. Das bedeutet, dass der Anteil der aktiven Wähler eigentlich niedriger ausfällt. So haben 2021 nur ca. 8,75 Millionen Menschen gewählt. Dies entspricht gerade ein wenig mehr als einem Drittel der Erwachsenen. Des Weiteren haben sich überhaupt nur 33,6% aller 18-24 Jährigen überhaupt zur Wahl registriert, weniger als in jeder anderen Altersgruppe. Je älter die Altersgruppe, desto höher ist der Anteil der im Wahlregister eingetragenen Menschen. Bei den über 60-Jährigen sind es sogar 94,4%. Daher kann davon ausgegangen werden, dass es gerade die junge Bevölkerung ist, die nicht wählen geht. Doch die geringe Teilnahme an Wahlen ist nicht das einzige Problem. Marokko hat zudem mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit (36,7%) zu kämpfen. Diese ist ein Katalysator für die Politikverdrossenheit der jungen Menschen, da das Arbeiten und Geld verdienen erstmal wichtiger ist als sich an der Politik zu beteiligen. Das ist auch einer der Gründe, warum  mehr als die Hälfte aller 18-29 Jährigen darüber nachdenkt, aus Marokko auszuwandern. Das ist aus vielen Gründen problematisch, denn die jungen sind oft besser ausgebildet als die älteren Menschen. Somit gehen Marokko qualifizierte Fachkräfte mit hohem Potential verloren, auf die das Königreich angewiesen ist. Außerdem ist es dem Image eines Gastgeberlandes der Fußball-Weltmeisterschaft nicht zuträglich, wenn die eigene Jugend lieber ins Ausland abwandert.  Es lassen sich bezüglich der politischen Teilhabe junger Menschen also drei große Herausforderungen identifizieren: Die geringe Wahlbeteiligung, die hohe Arbeitslosigkeit und die hohe Auswanderungsbereitschaft.

Warum junge Menschen in Marokko nicht zur Wahl gehen

Ein Grund hierfür könnte der mit der Wählerregistrierung verbundene bürokratische Aufwand sein, denn in Marokko kann man nicht wie in Deutschland einfach mit seinem Personalausweis und dem Wahlschein zur Wahl gehen. Um in Marokko wählen zu können, muss man sich in einem bestimmten Zeitraum schon mehrere Wochen vor der Wahl registrieren lassen. Erst dann ist man im Wählerverzeichnis aufgeführt und darf an Wahlen teilnehmen. Darüber hinaus fehlt es vielen jungen Menschen an Vertrauen in Politiker und öffentliche Institutionen. So zeigt ein Bericht über die zivile Partizipation von jungen Menschen in Marokko, dass 70% der Jugend gewählten öffentlichen Institutionen und Parteien nicht vertrauen. “(...) [D]ieses Misstrauen [äußert] sich nicht durch Konfrontation, sondern eher durch stillen Rückzug”. Gespräche, die zur Recherche dieses Artikels mit jungen Menschen geführt wurden, bestätigen diese statistische Erhebung. Ein 29-Jähriger Mann aus Tiznit (nahe Agadir) glaubt, dass junge Menschen wissen würden, “(...) wie korrupt das ganze System und die Politiker sind.” Weiterhin sagt er: “Der marokkanischen Jugend ist die Politik total egal, da sie weiß, dass sich sowieso nichts verändern wird. Wir gehen auch genau aus diesem Grund nicht wählen.” Ähnliches meint auch ein 20-jähriger Mann aus Tanger, der behauptet, dass “(...) die Politiker nur an ihren eigenen Interessen interessiert sind und keinen Bezug zur Realität haben.” 

Haben die jungen Marokkaner also gar keine Lust auf Politik und keine Motivation ihre Meinung irgendwie zu äußern? Eine 25-jährige Person aus Nador bestätigt, dass sie sich mit marokkanischer Politik kaum befasst, jedoch sehr wohl internationale Politik verfolgt und sich über social media austauscht. Eine große Bedeutung kommt dabei YouTube zu. Dort schaue sie sich nämlich Talk Shows zu politischen Themen an. Jedoch räumt sie gleichzeitig ein, nicht wählen zu gehen, da es aus ihrer Sicht “ (...) keinen Unterschied macht, weil es sich bei Marokko um eine Monarchie handelt.”

Bei Marokko handelt es sich tatsächlich um eine Monarchie, allerdings um eine konstitutionelle. Das Staatsoberhaupt ist König Mohammed VI., der seit 1999 amtiert.  Dessen Macht ist allerdings nicht absolut, sondern beschränkt durch die Verfassung in ihrer aktuellen Version von 2011. Es gibt außerdem ein gewähltes Parlament mit einer lebendigen Parteienlandschaft (darunter drei liberale Parteien) und einem vom Parlament gewählten Regierungschef. Der König, der gleichzeitig auch spiritueller Führer des Landes ist (Amir al mu’minin, Befehlshaber der Gläubigen), gibt im Rahmen wichtiger Reden die Leitlinien für die Politik vor. So ist er unter anderem auch der Initiator der derzeit laufenden Modernisierung des Familienrechts. In besonders wichtigen Fragen, z.B. in der Außenpolitik, lenkt er die Geschicke seines Landes auch manchmal selbst. Er genießt enormes Vertrauen und Ansehen in der Bevölkerung, weshalb manche potentiellen jungen Wähler es womöglich gar nicht für nötig erachten, wählen zu gehen. Sie unterschätzen aber möglicherweise, welche Macht das Parlament und die von ihnen (nicht) gewählten Parteien innehaben. Sie wissen häufig auch nicht, um die zusätzlichen Gestaltungsspielräume, die ihnen ihre eigene Verfassung bietet.

So gibt es in Marokko ein Ministerium, dass sich um Jugendfragen kümmert. Des Weiteren gibt es seit 2011 die Möglichkeit Petitionen einzureichen (Art. 15). Auch Bürgergesetzinitiativen sind möglich (Art. 14). Die Verfassung ermöglicht es auch Gemeinden Jugendräte zu eröffnen (Art. 170). So gibt es zum Beispiel seit 2010 mit Unterstützung von NGOs einen Jugendrat in Agadir. Aber wenn es so viele Möglichkeiten gibt, warum beteiligt sich die Jugend dann nicht stärker?

Neben den genannten Gründen könnte es sein, dass sie nicht genügend über Partizipationsmöglichkeiten aufgeklärt werden. Diese Aufgabe käme der Familie, den Schulen, aber auch den Parteien zu. Außerdem gibt es einen enormen Unterschied zwischen Stadt und Land, da in den ländlichen Regionen die benötigte Infrastruktur häufig nicht gegeben ist, um z.B. einen Jugendrat zu gründen. Man spricht in diesem Kontext manchmal auch abfällig von einem “nützlichem” und “unnützlichem Marokko”. Die Aussichten eines jungen Menschen aus einer kleinen Stadt wie z.B. Beni Mellal auf Selbstverwirklichung und politische Teilhabe sind andere, als die eines Jugendlichen in Casablanca.

Die politischen Parteien und ihre Vertreter werden in der breiten Bevölkerung häufig als ineffektiv und elitär, also als abgehoben, wahrgenommen. Das spiegelt sich auch in dem o.g. Bericht wider, der zeigt, dass die Jugend in Marokko sich nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden fühlt, sondern eher als “(...) Zielgruppe, die sensibilisiert werden muss”. Das heißt, dass sie sich von marokkanischen Politikern und Institutionen nicht ernstgenommen fühlen, so als ob sie erst zum Wählen und zur politischen Partizipation erzogen werden müssten, obwohl es gemäß der Verfassung Aufgabe der öffentlichen Institutionen ist, die Jugend aktiv in politische Prozesse einzubinden.

Wie junge Marokkaner doch ihr Interesse an politischen Themen zeigen

Die jungen Menschen in Marokko sind also politikverdrossen. Jedoch zeigen sie sehr wohl ein generelles Interesse an politischen Themen. Sie schaffen sich neue Räume, in denen sie sich austauschen. Ein wichtiges Beispiel sind private Vereine (NGOs), in denen sich politisch engagierte junge Menschen zahlreich engagieren. Bekannte Beispiele sind die AMDH (Association Marocaine des Droits Humains), die sich für Menschenrechte einsetzt und ADFM (Association Démocratique des Femmes du Maroc), eine NGO, die sich vor allem für Frauenrechte engagiert. Sie betreibt strategische Lobbyarbeit und hat sogar politische Veränderungen bewirken können. Mit anderen NGOs hat sie dazu beigetragen, dass der Strafrechtsartikel, der es Vergewaltigern ermöglichte, ihre Strafe zu umgehen, indem sie das Opfer heiraten, verändert und im Jahr 2014 abgeschafft wurde. Diese und andere Erfolge erklären mutmaßlich, warum das Vertrauen in Vereine so viel größer ist: 70% aller Marokkaner vertrauen zivilgesellschaftlichen Institutionen, während 70% der jungen Menschen öffentlichen Institutionen nicht vertrauen.

Ein weiteres Beispiel für politische Teilhabe ist social media. Marokkanische Medien veröffentlichen ihre Beiträge zunehmend auf Instagram und in anderen sozialen Medien, wo junge Menschen dann in den Kommentaren sehr dezidiert Stellung beziehen und auch Kritik an Behörden und Politikern üben. Beispielsweise postet eine Instagram-Seite über politisch relevante Ereignisse, speziell für die Stadt Tanger. Unter einem Post fordern die Kommentatoren die Stadtverantwortlichen auf, sich endlich um den Müll zu kümmern, der auf einigen Straßen in der Stadt herum liegt. Aber auch bei politischen Themen von geografisch und politisch größerer Tragweite, wird eifrig über Lösungen diskutiert.

Dies zeigt, dass die Glut unter der Asche des arabischen Frühlings noch nicht erloschen ist und die jungen Menschen in Marokko doch noch den Ansporn zur Mitgestaltung haben.

Die Fußballweltmeisterschaft 2030 ist eine einzigartige Chance, sich auf internationaler Bühne als modernes und inklusives Land zu präsentieren. Fraglich ist, ob das Königreich diese Möglichkeit nutzen kann, um der Jugend eine Stimme zu verleihen und in politische Entscheidungsprozesse einzubinden. Allerdings liegt es auch an der Jugend selbst, das eigene Misstrauen in die Politik zu überwinden. Sie muss sich einbringen und dem Staat und den Parteien zeigen, dass sie sich engagieren will, wenn sie ernst genommen werden möchte.

Es bleibt spannend, ob und inwiefern Marokko und seine Jugend diese Herausforderung im Rahmen der Weltmeisterschaft und darüber hinaus meistern werden.