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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Impfstrategie
Großbritannien ist zu Unrecht ein verachtetes Vorbild

Deutschland muss von Großbritannien lernen. Nicht nur beim Impfen.
Boris Johnson beim Verlassen seines Amtssitzes in 10 Downing Street.
Der britische Premierminister Boris Johnson hat in Deutschland eine gefährliche Mischung aus Arroganz und Überheblichkeit aufkommen lassen. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Matt Dunham

Das Debakel ist unvergessen, obwohl schon 20 Jahre her: 2001 verlor die deutsche Fußballnationalmannschaft zu Hause ein Qualifikationsspiel zur Weltmeisterschaft gegen England mit 1:5. Es war die Zeit beginnender deutscher Selbstzweifel, und zwar nicht nur im Sport. Auch wirtschaftlich galt Deutschland damals als „kranker Mann Europas“ (The Economist). Und schließlich tat sich was: Deutschland (nicht England!) wurde im Fußball 2002 Vizeweltmeister; und wenige Jahre danach legten weitreichende Reformen rund um Hartz IV den Grundstein für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Nation.

Hoffen wir, dass es diesmal auch so kommt, aber dafür müsste die Politik sich endlich selbst ehrlich machen. Das Menetekel ist das Impfdesaster – symbolhaft abzulesen am Rückstand gegenüber Großbritannien, wo die Regierung am letzten Wochenende mit Stolz verkündete, dass 50 Prozent aller Erwachsenen geimpft sind. In Deutschland liegt die Quote derzeit knapp über 10 Prozent, also wie seinerzeit im Fußball: 1:5. Aber das Problem ist natürlich viel ernster, denn es geht um Leben und Tod, um Gesundheit oder Krankheit, um Normalität versus Stillstand. Da war, solange sich alles nur um den Lockdown drehte, die deutsche Bilanz bis zum Dezember 2020 der britischen weit überlegen. Aber in jüngster Zeit hat sich dies radikal gewandelt.  

Die Politik sollte die Warnzeichen erkennen und sich nicht wie bisher herausreden. Denn ihr Management-Versagen liegt auf der Hand. Zum einen hat die EU - anders als Großbritannien - viel zu wenig Impfstoff gekauft,  und zwar zur Zeit der deutschen Ratsvorsitzenden Angela Merkel und unter der deutschen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Offenbar fehlte seinerzeit der deutschen EU-Führung komplett der Blick für das Wesentliche, der Verfügbarkeit des Impfstoffs.

Zum anderen verläuft in Deutschland der Impfprozess extrem langsam: Die „Gerechtigkeit“ der Verteilung hat absolute Priorität über die Schnelligkeit, die vorhandene Infrastruktur der niedergelassenen Ärzte bleibt bisher ungenutzt, die Digitalisierung der Prozesse funktioniert fast nirgends. Hinzu kommt jenseits des Impfens der chronische Mangel an Schnelltests, die unzureichende Ausstattung der Schulen mit Belüftungsanlagen und das Fehlen jeden Versuchs, die Infektionswege durch empirische Feldforschung zu erkunden. Die Liste der Schwächen ließe sich noch beliebig verlängern.

Kurzum: Es ist das Bild einer altmodischen und trägen Bürokratie, die jenseits der Verwaltung des Lockdowns kaum etwas zustande bringt. Deutschland ist stehengeblieben in einer vordigitalen Welt, in der nicht die rasche Beseitigung der Engpässe im Vordergrund seht, sondern die gerechte Verteilung der Mangelware. Der Staatssozialismus preußischer Provenienz meldet sich zurück – bei Gelegenheit einer Pandemie. Die endlosen „ethischen“ Debatten über die Impfreihenfolge und deren bürokratische Umsetzung sind dafür ein passender Indikator. Und wohlgemerkt: Mit pragmatischeren Regeln hat Großbritannien schon die Hälfte der Erwachsenen geimpft, und damit natürlich auch die benachteiligten Risikogruppen wohl weit besser abgedeckt als Deutschland. Wachstum hilft eben bei der Verteilung!

Besonnene Stimmen in Großbritannien mahnen natürlich zu Recht, den Punktsieg der Briten nicht zu Triumphgeschrei zu nutzen. Aber machen wir uns bitte nichts vor: Die Menschen diesseits und jenseits des Kanals nehmen zur Kenntnis, wie jämmerlich die EU und Deutschland agieren – und wie miserabel deren Impfbilanz ausfällt. Liegt da nicht der allgemeine Schluss nahe, dass die Stärken des alten Kontinents die großen Gesten, aber nicht das kluge Handeln und das moderne Management sind? Wem ist es zu verdenken, wenn bei dieser Bilanz der zukunftsweisende Fortschritt außerhalb der EU vermutet und gesucht wird – auch von weltweit tätigen Unternehmen? Und war da vielleicht doch der Brexit gar keine so dumme Idee, um sich von der bürokratischen Mentalität des Kontinents (und allemal der Deutschen!) zu verabschieden?

Es ist höchste Zeit, dass in der EU – und besonders in Deutschland – diese Fragen ernst genommen werden. Der Brexit als Ereignis und Boris Johnson als Person haben hierzulande eine gefährliche Mischung aus Arroganz und Überheblichkeit aufkommen lassen. Der Irrweg der Briten schien zu eindeutig zu sein, als dass man ihn noch differenziert betrachten und analysieren musste. Aber ähnlich wie beim Thatcherismus eine politische Generation zuvor in den achtziger Jahren steckt in der britischen Politik auch der Kern eines zu Unrecht verachteten Vorbilds: der Befreiungsschlag von bürokratischen Fesseln, die Priorität von Wachstum über Verteilung, eine neue Qualität der offensiven Standortpolitik. Das müssen wir ernst nehmen – sonst bleiben wir der kranke Mann Europas.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 24.03.2021 in der Sächsischen Zeitung.