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Immun gegen Corona: Der griechisch-türkische Konflikt

Türkisches Spezialkräfte-Team patrouilliert auf einem Schnellboot entlang des Maritsa-Flusses an der türkisch-griechischen Grenze in der Nähe des Dorfes Karpuzlu in der Region Edirne
Türkisches Spezialkräfte-Team patrouilliert auf einem Schnellboot entlang des Maritsa-Flusses an der türkisch-griechischen Grenze in der Nähe des Dorfes Karpuzlu in der Region Edirne © picture alliance /AP Photo/Emrah Gurel

In diesen Tagen ist die gesamte Welt aufgewühlt, nichts scheint mehr so zu sein wie noch vor einigen Monaten. Zumindest in der Ägäis ist jedoch alles wie gehabt: Die ewigen Rivalen Griechenland und Türkei kommen mit ihren gegenseitigen Provokationen einer Eskalation gefährlich nahe. Doch es gibt auch Hoffnung, denn die Zivilgesellschaft hält dagegen.

Einige sprechen schon von einer Zeitenwende, es gäbe also eine Zeit vor Corona und eine danach. Die Wirtschaft liegt in vielen Ländern brach, der weltweite Handel ist zum Erliegen gekommen, Flughäfen sind wie leergefegt. Nicht Mallorca oder die griechischen Inseln, sondern die Mecklenburgische Seenplatte oder die Nordfriesischen Inseln sind im Sommer 2020 die bevorzugten Urlaubsdestinationen. „Social Distancing“ und „Quarantäne“ haben seit Covid-19 ihren festen Platz in unserem Alltagsvokabular.

Und doch gibt es politische Konstanten, die auch von der Corona-Pandemie nicht gestört werden. Zu ihnen gehört der griechisch-türkische Konflikt, der dieser Tage die angespannteste Phase seit der Krise um den Imia-Felsen (türk. Kardak) von 1996 erlebt.

Um die bilateralen Beziehungen zwischen Athen und Ankara war es schon seit einigen Jahren nicht mehr gut bestellt, sporadische gegenseitige Verbalattacken haben sich zuletzt jedoch zu einem erneuten „Kalten Krieg“ zwischen den beiden ewigen Rivalen in der Ägäis entwickelt.

Annäherung weicht neuen Spannungen

Im Jahr 2000 noch hatten die damaligen Außenminister beider Länder, Ismail Cem und Giorgos Papandreou, in New York gemeinsam den Preis des „Staatsmannes des Jahres“ entgegengenommen. Die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright lobte die beiden Chefdiplomaten mit den Worten: „Die Welt ist stolz auf euch“. Die Freundschaft zwischen Cem und Papandreou („Sirtaki Diplomacy“) ging sogar soweit, dass sie gemeinsame Nahost-Reisen unternahmen, um den Friedensprozess zwischen Israel und Palästina wieder in Gang zu bringen. Zwanzig Jahre später sind derart enge Beziehungen undenkbar, stattdessen ist in beiden Hauptstädten Säbelrasseln zu vernehmen.

Eine Erklärung für die momentane Situation mag in der türkischen Regierungskoalition liegen. Um sich eine Mehrheit zu sichern, ging der türkische Präsident Erdogan eine Allianz mit der ultranationalistischen MHP ein. Seitdem verfolgen Erdogan und seine Regierung eine weitaus nationalistischere Politik als in den Jahren zuvor. Neben der Griechenland-Politik ist das insbesondere auch in der Kurdenfrage zu beobachten. Die Flucht von acht angeblich „gülenistischen“ Kampfpiloten, die in der Nacht des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 mit einem Hubschrauber nach Griechenland geflüchtet waren, hat die Beziehungen weiter verschlechtert. Athen weigert sich konsequent, diese auszuliefern. Zudem vertritt die seit einem Jahr regierende konservative Nea Dimokratia eine kompromisslosere Linie gegenüber dem Nachbarn als die abgewählten Syriza-Regierung.

Es war in der Vergangenheit für Ankara Usus, Griechenland für alles Übel in der Ägäis oder im Mittelmeer verantwortlich zu machen. Heute scheint die Erdogan-Regierung dazu übergegangen zu sein, das Nachbarland zu dämonisieren. Der türkische Präsident weiß, dass diese Taktik auf der Straße gut ankommt: Einer Studie des renommierten Instituts MetroPOLL von Dezember des vergangenen Jahres zufolge gehört Griechenland zusammen mit Saudi-Arabien, den USA und Syrien zu den Ländern, denen die Menschen in der Türkei am wenigsten vertrauen.

Situation spitzt sich weiter zu

Die Vorfälle an der griechisch-türkischen Grenze im März, als tausende Flüchtlinge die Grenze überrennen wollten, nachdem Erdogan sie für geöffnet erklärt hatte, haben ihre Spuren auch in der griechischen Bevölkerung hinterlassen: Einer Umfrage von Pulse/Skai vom 6. März zufolge waren 83% der Befragten besorgt über die Ereignisse. Die zu diesem Zeitpunkt bereits einsetzende Corona-Pandemie machte zu diesem Zeitpunkt im Vergleich nur 42% der Befragten Sorgen. Eine Überschrift der renommierten griechischen Tageszeitung Kathimerini von Anfang April macht deutlich, welches Drohszenario von der Türkei ausgeht: „Im Gegensatz zum Coronavirus wird die Türkei bleiben“. Dieser Titel mag auch eine Reflektion sein, dass Griechenland bei der Überwindung von Covid-19 vergleichsweise gut dasteht. Einer weiteren Umfrage zufolge sehen 86% der Griechen ihr Land auf dem richtigen Weg. Im Vergleich dazu liegt dieser Wert in der türkischen Bevölkerung bei nur rund 35%.

Es vergeht kein Tag, an dem es nicht zu einem Scharmützel zwischen den beiden Ländern kommt. Konfrontationen zwischen griechischen und türkischen Kampfjets in der Ägäis haben wieder Konjunktur. Ein militärisches Manöver der griechischen Marine nahe der Inseln Farmakonisi (türk. Bulamac) und Pserimos (Keci), beide nur einen Steinwurf von der türkischen Küste entfernt, haben die Situation weiter zugespitzt. Türkische Medien berichteten, griechische Soldaten würden bei diesem Manöver echte Kugeln benutzen und in Richtung des Nachbarn schießen. Nach türkischer Lesart befinden sich diese und 14 weitere Inseln in der Ägäis im Hoheitsgebiet der Türkei; die griechische Präsenz dort sei rechtswidrig. Begleitet werden die Entwicklungen stets mit gezielter Desinformation, die die Spannungen weiter befeuern. Die türkische Nachrichtenagentur DHA berichtete am 1. Juni, auf der Spitze des Minaretts der Moschee von Didymoteicho, einer Stadt unweit der Grenze zur Türkei, sei provokativ die griechische Flagge gehisst worden. Doch die türkische Fact-Checking-Organisation Teyit entlarvte das dazugehörige Bild als unecht.

Streit um Erdgasbohrungen im östlichen Mittelmeer

Die sich zuspitzende Konfrontation zwischen der Türkei und Griechenland wäre ohne die Einbeziehung der Themen „Libyen“ und „Erdgasbohrungen im östlichen Mittelmeer“ unvollständig. Auf der Suche nach Quellen zur Deckung des Energiebedarfes hatte Ankara im Herbst 2019 einen Vertrag mit der von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung Libyens unter Fajis al-Sarradsch geschlossen. In diesem Vertrag ist eine Seegrenze zwischen beiden Ländern beschrieben, die quer durch das östliche Mittelmeer verläuft und zahlreiche griechische Inseln missachtet. Athen erklärte das Abkommen umgehend für „null und nichtig“. Der türkisch-libysche Vertrag war eine Antwort auf die Vereinbarung zwischen Griechenland, Israel und Zypern zum Bau der Pipeline Eastmed, die wiederum die Türkei bzw. das türkisch besetzte, völkerrechtlich nicht anerkannte Nordzypern außenvorgelassen hatte. Letztlich geht es um die Frage, ob Inseln einen Festlandsockel haben. Internationale Verträge bejahen dies, die Türkei negiert dies jedoch.

Freitag vergangener Woche kam dann endlich eine Meldung, die Hoffnung auf „verbale Abrüstung“ macht: Die beiden politischen Führer des Landes, der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis und der türkische Präsident Erdogan, rangen sich nach langer Zeit der Funkstille endlich dazu durch, miteinander zu kommunizieren. Dies war der erste direkte Kontakt zwischen den beiden seit dem 24. Januar. Auch wenn die wichtigen Themen bei diesem ersten Gespräch erst einmal beiseitegelegt wurden, geht diese Meldung mittlerweile als gute Nachricht durch.

Zivilgesellschaft hält dagegen

Ungeachtet dieser Entwicklungen rückt das Datum näher, an dem sich die türkisch-griechischen Beziehungen noch weiter verschlechtern könnten: Am 2. Juli wird die Danistay, eines der höchsten Gerichte der Türkei, entscheiden, ob die Umwandlung der Hagia Sophia in ein Museum im Jahre 1935 rechtens war. Das monumentale Bauwerk, das 900 Jahre als Krönungskathedrale des Byzantinischen Reiches gedient hatte, wurde 1453 mit der Eroberung Konstantinopels in eine Moschee umgewandelt, bevor Republikgründer Atatürk sie als Symbol des laizistischen Selbstverständnisses des neuen Staates zu einem Museum umbauen ließ. Vielen strenggläubigen Muslimen ist dies seitdem ein Dorn im Auge. Erdogan hatte in der Vergangenheit immer wieder angedeutet, die Hagia Sophia als Moschee wiederzueröffnen, doch die Pläne nie verwirklicht. Angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten im Land und der schwindenden Unterstützung innerhalb der Bevölkerung könnte er dieses Versprechen nun wahrmachen.

Falls das Gericht dementsprechend entscheiden sollte, wird am 15. Juli, dem vierten Jahrestag des vereitelten Putschversuchs, mit einer pompösen Eröffnungszeremonie gerechnet. Ein prominenter Eintrag in türkische Geschichtsbücher wäre Erdogan damit sicher, denn einer Umfrage zufolge unterstützt über Parteigrenzen hinweg eine Mehrheit die Öffnung des Weltkulturerbes als Moschee. Griechenland, das sich den Hinterlassenschaften des Byzantinischen Reiches und vor allem der Hagia Sophia verbunden fühlt, beobachtet das Ganze mit Argwohn und hat sich seitdem mit Kritik gegenüber Ankara eher ungeschickt angestellt. Die fortwährende Wortmeldung aus Athen zur Causa Hagia Sophia wird selbst in der säkularen Schicht der türkischen Bevölkerung als Einmischung in innere Angelegenheiten verstanden, was die Ausgangslage Erdogans eher begünstigt.

Auch wenn die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern in der Ägäis momentan auf einem historischen Tief angekommen zu sein scheinen, hält die Zivilgesellschaft mit ihren Aktionen dagegen und bemüht sich um Verständigung. Mehr als 120 griechische Musiker drehten ein Musik-Video zum Zeichen ihrer Solidarität mit der in der Türkei verbotenen Band Grup Yorum. Auf dem Video, das auf YouTube veröffentlicht wurde, singen die griechischen Singer das türkische Lied „Tencere Tava Havasi“ und öffnen am Ende des Clips ein Banner auf dem „From Greece to Turkey, Solidarity to Grup Yorum“ steht. Das gesungene Lied hingegen entstand in den Tagen der Gezi-Proteste im Jahr 2013. Die türkische Band Grup Yorum ist für ihre politischen Songtexte bekannt und aufgrund des Vorwurfs der Nähe zu linksextremistischen Gruppen seit 2016 mit einem landesweiten Konzertverbot belegt. Einige Bandmitglieder waren in der Vergangenheit zeitweilig festgenommen worden.