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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Frühjahrsgutachten
Bremsspuren beim Produktionspotenzial

Deutschland droht die langfristige Stagnation. Eine offensive Angebotspolitik ist dringend nötig.
Bundespressekonferenz zur Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute in Berlin

Die Bundespressekonferenz zur Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute in Berlin.

© picture alliance / photothek.de | Juliane Sonntag

Noch eine pessimistische Prognose! In dieser Woche legten die großen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute ihr Gemeinschaftsgutachten vor. Es kam wie es kommen musste: Auch sie revidierten ihre Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft im Jahr 2024 nach unten – auf +0,1 Prozent des BIP, also praktisch Stagnation. Zuletzt im Herbst 2023 hatten sie noch +1,4 Prozent vorhergesagt. Im Wesentlichen läuft allerdings ihr neuer Schätzwert auf eine Verschiebung der konjunkturellen Erholung hinaus – stärker auf das kommende Jahr 2025. Also: kein neuer Grund zur Aufregung jenseits der bereits bekannten großen Sorgen um die angeschlagene deutsche Wirtschaft.

Liest man das Gutachten aufmerksam, so fällt allerdings ein brisantes, aber technisch anmutendes Kapitel auf – zur Neu-Schätzung des Produktionspotentials der deutschen Wirtschaft. In diesem wird der Trend der Produktionsmöglichkeiten für die nächsten fünf Jahre bis einschließlich 2028 berechnet und beschrieben. Jeder Volkswirt weiß, dass solche Berechnungen in hohem Maße unsicheren Prognosecharakter haben. So müssen u. a. die Größe des Sachkapitalstocks und des Arbeitsvolumens sowie des Trends der Produktivität geschätzt werden, was eine Vielzahl komplexer Unsicherheiten mit sich bringt. Es schlagen sich nämlich darin u. a. die Investitionen der letzten Jahre mit ihrer Kapazitätswirkung sowie demografische Trends, Arbeitszeitveränderungen und technologische Entwicklungen nieder. Also: Vorsicht bei der Interpretation.

Gleichwohl sind die Ergebnisse so eindeutig, dass es kaum Zweifel an ihrer Größenordnung gibt: Das Wachstum des Produktionspotenzials nimmt scharf ab, und zwar deutlich schärfer als noch im Herbst 2019 – kurz vor Corona-Beginn – vorhergesagt. Von 2025 bis 2028 liegt die Wachstumsrate gerade mal noch bei 0,5 Prozent im Jahr, bedingt vor allem durch die Investitionsschwäche der deutschen Wirtschaft, aber auch das abnehmende Arbeitsvolumen aufgrund von verschiedenen gleichgerichteten Trends – von der demografischen Schrumpfung bis zur Verkürzung der Arbeitszeit, wie sie u. a. in Tarifverträgen festgeschrieben wird. Die längerfristige Veränderung ist dramatisch: Wuchs das Potenzial Mitte der letzten Dekade noch im Trend um 1,5 Prozent pro Jahr, sind es zehn Jahre später nur noch 0,5 Prozent. Das heißt: Auch die konjunkturell bereinigte Wachstumsrate wird sich maximal in dieser niedrigen Größenordnung einpendeln.

Das ist alarmierend, überrascht aber nicht. Es unterstreicht die durchaus dramatische Lage in Deutschland. Mit dieser Perspektive wird das Land spätestens nach einem Jahrzehnt aus der Spitzengruppe der führenden Industrienationen der Welt herausfallen. Es wird höchste Zeit, dass dies endlich politisch begriffen wird – und zwar von allen demokratischen politischen Kräften, Regierung und Opposition im Bund und in den Ländern. Mit diesem schwachen Wachstum wird Deutschland die großen klima- und sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht bewältigen können – ganz zu schweigen von der Finanzierung des Sozialstaats, ohne dass es zu schwerwiegenden Verteilungskonflikten zwischen Bevölkerungsgruppen und Generationen kommt. Wir brauchen deshalb dringend ein Umsteuern – hin zu einer Politik, die konsequent auf höhere private Investitionen setzt sowie flexiblere Lebens- und Wochenarbeitszeiten und die Zuwanderung von leistungsfähigen Arbeitskräften erlaubt. Kurzum: eine neue, offensive Angebotspolitik.