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Pressefreiheit
Enttäuschung in der Slowakei

Angeblicher Auftraggeber des Journalistenmordes wieder freigesprochen
People hold a candle-lit vigil in front of the Consulate General of the Slovak Republic in Krakow, in memory of the journalist Jan Kuciak and and his fiancee Martina Kusnirova,

People hold a candle-lit vigil in front of the Consulate General of the Slovak Republic in Krakow, in memory of the journalist Jan Kuciak and and his fiancee Martina Kusnirova,

© picture alliance / NurPhoto | Artur Widak

Der Prozess im Fall des Mordes an dem slowakischen Investigativjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová im Februar 2018 ist nach fünf Jahren nun doch noch nicht zu Ende. Der Hauptverdächtige, angeblicher Auftraggeber des Mordes Marián Kočner wurde am Freitag, den 19. Mai 2023, vom slowakischen Strafgerichtshof nun schon in zweiter Instanz freigesprochen. Die Mitangeklagte, Vermittlerin des Mordes Alena Zsuzsová bekam 25 Jahre Haft. Die Gesellschaft ist empört. Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig.

Die Slowakei als „entführter Staat“

Der Mord an dem Journalisten vor fünf Jahren verursachte ein großes gesellschaftliches Erdbeben im Lande. Erst nach dieser Tat erfuhren die Slowaken, dass sie seit langem in einem korrupten und von der Mafia beherrschten Staat lebten. In der Slowakei wurde das seitdem als „entführter Staat“ bezeichnet. Als diejenige Person, die hinter den Kulissen im gesamten Staate die Fäden gezogen und schließlich angeblich den Mord an dem Journalisten angeordnet hatte, durch den die Korruption dann aufgedeckt wurde, galt Marián Kočner.

Der slowakische Unternehmer Kočner war während seiner Geschäftstätigkeit in mehrere Fälle von Steuerhinterziehung und -betrug verwickelt gewesen. Auf seinem Telefon waren Tausende von Textnachrichten gefunden worden, die die Manipulation von Dutzenden von Anwälten, Richtern, hochrangigen Polizeibeamten, unter anderem dem Polizeichef, und sogar dem Oberstaatsanwalt der Slowakischen Republik bewiesen. Sie alle beeinflussten den Verlauf verschiedener Prozesse zu seinen Gunsten. Auf der Grundlage dieser Beweise wurden mehrere slowakische Richter verhaftet und angeklagt, darunter z. B. auch die ehemalige Staatssekretärin des Justizministeriums.

Kočners Kommunikation mit den slowakischen Oligarchen Norbert Bödör über die Kommunikations-App Threema zeigte enge Verbindungen zum ehemaligen Premierminister und Vorsitzenden der sozialdemokratischen SMER-Partei ("Die Richtung") Robert Fico und zu seinem Innenminister Robert Kaliňák, denen Kočner durch Bödör Nachrichten übermittelte.

Verwicklungen während der Untersuchung

Die Polizei kam den tatsächlichen Mördern erst fast 7 Monate nach der Tat auf die Spur. Folglich handelte es sich um Miroslav Mareček, der den Abzug drückte, und Tomáš Szabo, der ihm bei der Vorbereitung des Mordes half und am Tatort mitwirkte. Die beiden wurden zu unbedingten Haftstrafen von 25 Jahren verurteilt. Zoltán Andruskó, der den Mord im Auftrag von Alena Zsuzsová organisiert haben soll, kooperiert seit seiner Verhaftung mit der Polizei und bestätigte sowohl die Namen der Mörder als auch die der Auftraggeber des Mordes: Kočner und Zsuzsová. Kočner und Zuszsová leugneten bis zuletzt ihre Mitschuld an dem Fall. Die Beweise deuteten zwar auf ihre Schuld hin, waren allerdings von Anfang an nicht eindeutig. Andruskó wurde zu 15 Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt.

Die Ermittlungen in dem gesamten Fall waren sehr komplex. Die wichtigsten Beweise für den Mord an Kuciak, für die Vorbereitung weiterer Morde und für Kočners Verbindungen zu Spitzenpositionen des slowakischen Staates stammen aus der Threema-App. Kočner korrespondierte dort verschlüsselt mit seiner Hauptkomplizin, der Mitangeklagten Alena Zsuzsová. Wegen unzureichender Überprüfbarkeit aller Beweise sprach das Sonderstrafgericht die beiden Hauptangeklagten im Jahr 2020 frei. Der Oberste Gerichtshof der Slowakei hob den Freispruch jedoch 2021 auf und verwies den Fall zurück an das Spezialstrafgericht. In der Zwischenzeit war es den Ermittlern in Zusammenarbeit mit Experten gelungen, die Threema-Gespräche zu entschlüsseln, und das Gericht ließ die Mitteilungen als Beweismittel in dem Fall zu.

Neben den Textnachrichten, die den Mobiltelefonen von Marian Kočner entnommen werden konnten, entdeckte die Polizei bei der Durchsuchung von Kočners Wohnung die gesamte Akte über Ján Kuciak sowie einen USB-Datenträger, der unter anderem Aufzeichnungen einer Überwachung Ján Kuciaks Monate vor dem Mord enthielt. Ján Kuciak hatte die Machenschaften Kočners seit langem verfolgt und schrieb regelmäßig Artikel über ihn. Kočner rief Kuciak sogar einmal an und drohte ihm und seiner Familie. Am Ende wurden die Drohungen Wirklichkeit.

Politische Konsequenzen

Der Tod des Journalisten war nur der Anfang. Es hatte seit langem Anzeichen und Gerüchte bezüglich Korruption und mafiöse Strukturen in der Politik gegeben, aber das tatsächliche Ausmaß, das dann mittels der Beweise im Mordfall Kuciak und seiner Artikel ans Licht kam, hatte wahrscheinlich niemand erwartet. Wenige Tage nach Kuciaks Tod veröffentlichte die Redaktion des Portals Aktuality.sk, für das er gearbeitet hatte, einen einschlägigen Artikel, den Kuciak selbst nicht mehr hatte publizieren können: „Die italienische Mafia in der Slowakei. Ihre Tentakel reichen auch in die Politik“. In diesem Artikel hatte Kuciak die Verbindungen der ehemaligen Staatssekretärin Mária Trošková, Assistentin des damaligen Ministerpräsidenten Robert Fico und Playboy-Model, zu Mitgliedern der italienischen Mafia 'Ndrangheta  aufgedeckt, die sich in der Slowakei vor Betrugs- und Mordanklagen in Italien versteckten und EU-Gelder in ihren Unternehmen in der Ostslowakei veruntreuten.

Der Mord, begleitet von der Enthüllung dieser mafiösen Verbindungen, löste die größten Straßenproteste in der Slowakei seit dem Ende des Kommunismus aus. Der Fall Kuciak und die gesamte Untersuchung wurden zum meistverfolgten Fall in der Geschichte der Slowakei, über den auch Journalisten aus der ganzen Welt nach wie vor berichten. Daraufhin traten Premierminister Fico, Innenminister Kaliňák und Polizeipräsident Gašpar zurück. In den folgenden Parlamentswahlen im Frühjahr 2020 wurde die sozialdemokratische und zurzeit populistisch auftretende  SMER-Partei hart abgestraft und die Bewegung Oľano („Gewöhnliche Leute und unabhängige Persönlichkeiten“), die sich als revolutionäre und antikorrupte Kraft präsentierte, gewann eindeutig.

Die Vierkoalition an der Spitze mit Oľano scheiterte allerdings schon bald an allen Fronten. Die slowakische Präsidentin Čaputová musste als Lösung einer langen politischen Krise im Lande am Montag den 15. Mai 2023 eine neutrale Experten- und Beamtenregierung ernennen. Außerdem zogen sich Robert Fico und seine Partei nicht aus dem politischen Geschehen zurück. Im Gegenteil, die Partei führt mittlerweile die Wahlumfragen vor den vorgezogenen Neuwahlen erneut an, die am 30. September 2023 stattfinden sollen. Fico kletterte dank seiner populistischen Rhetorik erneut an die Spitze der politischen Präferenzen, in dem er sich der Müdigkeit und des Unmuts der Bevölkerung über die Anhäufung mehrerer Krisen der letzten Jahre, den Krieg in der Ukraine und das Scheitern der von Oľano geführten Regierung bediente.

Das Urteil

Kočner und Zsuzsová wurden nicht nur wegen des Mordes an Jan Kuciak angeklagt, sondern auch wegen der Vorbereitung des Mordes an drei hochrangigen Staatsanwälten. Diese Anklagen wurden dem Fall Kuciaks angeschlossen. Die beiden sitzen jedoch schon aufgrund anderer Verbrechen im Gefängnis. Das Gericht verurteilte Zsuzsová 2020 im Fall des Mordes an dem ehemaligen Bürgermeister der südslowakischen Stadt Hurbanov zu 21 Jahren hinter Gittern. Kočner wurde 2021 wegen Fälschung von Schuldscheinen und Wechselbetrug zu einer Freiheitsstrafe von 19 Jahren verurteilt.

Im Fall Kuciak, der das Gesicht der Slowakei neu enthüllte und für immer veränderte, forderte nun nicht nur die Familie der Ermordeten, sondern die ganze Gesellschaft die Gerechtigkeit. Man konnte und kann immer noch einen enormen gesellschaftlichen und medialen Druck auf die Justiz spüren. Hier ging es nämlich nicht „nur“ um Bestrafung der Mörder, sondern um unbedingte Verurteilung jeglicher Versuche, das Funktionieren des Staates und des Gesellschaftssystems zu stören und zu manipulieren. Das war auch die Begründung des in diesem Fall leitenden Staatsanwalts, der bei der letzten Anhörung am 9. Mai 2023 die lebenslange Haftstrafen für Kočner und Zsuzsova forderte.

Das Gericht sah dies doch anders. Alena Zsuzsová wurde des Auftrages zum Mord an Ján Kuciak und der Vorbereitung der Morde an zwei Staatsanwälten sowie der illegalen Bewaffnung schuldig gesprochen. Sie wurde zu einer Gesamtstrafe von 25 Jahren verurteilt, und muss 160 000 Euro Schmerzensgeld an die Familie des Journalisten und seiner Verlobten zahlen. Für die drei Morde und die beiden vorbereiteten Morde erhielt sie also nur 25 Jahre statt einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Das Gericht begründete dies damit, dass es in ihrem Fall ‚Hoffnung auf Läuterung‘ sähe. Das Gericht sprach Marián Kočner von allen Anklagepunkten frei, da die Beweise unzureichend seien und lediglich ‚Indizien‘ darstellten. Paradoxerweise erkannte das Gericht jedoch als Motiv für Zsuzsovas Handeln die Angst vor dem Verlust ihres festen Einkommens und anderer materieller Vorteile an, die ihr Marián Kočner, der übrigens auch Taufpate ihrer Tochter ist und beide nachweislich finanziell unterstützt hatte, hatte zukommen lassen. Das Hauptargument der Ankläger ist, dass Zsuzsová nicht über die finanziellen Mittel verfügte, um die Morde allein zu verwirklichen. Schließlich war es Kočner, der Kuciak persönlich bedroht hatte, weil dieser seine wirtschaftliche Tätigkeit und seinen Ruf gefährdete. Das Urteil ergibt daher für viele Slowaken keinen Sinn, und Kuciaks Familie wie auch die Gesellschaft insgesamt sind empört und entrüstet.

Unsichere Zukunft

Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig. Die Ankläger - Kuciaks Eltern und die Mutter von Kuciaks Verlobter - wollen so schnell wie möglich in allen Punkten des Urteils Berufung einlegen. Sie können auch auf eine neue Zusammensetzung der Strafkammer bestehen, die den Fall verhandelt. Dies würde jedoch die Zeit bis zu einem neuen Urteil verlängern, auf das die Familien der Ermordeten und die ganze Slowakei bereits seit fünf Jahren warten. Es ist keineswegs sicher, ob und wann dieses Trauma für die gesamte Slowakei endlich ein Ende haben wird, wie die slowakischen Medien nach dem Urteilsspruch am Freitag verkündeten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Oberste Gerichtshof den Fall erneut an das Sonderstrafgericht zur Überprüfung der Beweise zurückverweisen wird, und dies wird sich so oft wiederholen, bis die eine oder andere Seite aufgibt.

Das Internet und die Medien wurden nach der Urteilsverkündung am Freitag mit enttäuschten und überraschten Reaktionen überschwemmt. Kaum jemand hatte erwartet, dass das Gericht die eine schuldig sprechen würde und den anderen nicht, d.h. dass es die Verbindung zwischen Zsuzsová und Kočner bei diesen Morden in Frage stellen würde. Der Chefredakteur einer der meistgelesenen Tageszeitungen der Slowakei, "Denník N", Matúš Kostolný, kommentierte das Urteil in einem Artikel mit der Überschrift: "Das Kočner-Urteil ist ein Vorbote der Ohrfeige, die wir bei den Wahlen erhalten werden". Kostolný schreibt, dass "solche wenig überzeugenden Gerichtsentscheidungen erklären, warum wir Desinformationskampagnen, Russland und Fico glauben". Die Bürger der Slowakei verlieren zunehmend das Vertrauen in ein funktionierendes System und den Rechtsstaat. Die unverständlichen Handlungen des Gerichts und die unzureichenden Erklärungen seiner Urteile haben das Misstrauen der Menschen gegenüber Recht und Ordnung im Staat vertieft, was wiederum den populistischen Parteien im Vorfeld der schicksalhaften vorgezogenen Wahlen in der Slowakei in die Hände spielt.