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Armenien
EU muss Armenien europäische Perspektive geben

Berg-Karabach

Ein vollbepackter Lastwagen mit Sachen von Flüchtlingen aus Berg-Karabach ist in den Serpentinen des Südkaukasus unterwegs

© picture alliance/dpa | André Ballin

Nach der gewaltsamen Einnahme von Bergkarabach durch Aserbaidschan steht Armenien vor größten Herausforderungen und einer ungewissen Zukunft. Russland ist seiner Rolle als traditionelle Schutzmacht und Bündnispartner Armeniens nicht nachgekommen, setzt das Land zunehmend unter Druck und hat sich de facto auf die Seite Aserbaidschans geschlagen. Die russische Untätigkeit ist einerseits ein Zeichen des Niedergangs der russischen Einflussmacht in der Region. Andererseits ist offenkundig, dass Russland die Enttäuschung vieler Armenier mit der seit der Samtenen Revolution 2018 demokratisch legitimierten Führung anfeuert, um die unliebsame Regierung Nikol Paschinjans aus dem Amt zu drängen und durch moskautreue Kräfte zu ersetzen.

Mit Geschichtsrevision und aggressiver Rhetorik fordert die aserbaidschanische Führung nach dem Sieg in Nagornyj Karabach nun einen extraterritorialen Korridor durch Armenien in seine Exklave Nachitschewan. Es besteht die reale Gefahr, dass angesichts der armenischen Unterlegenheit, Russlands stillschweigender Duldung und einer zögerlichen Reaktion des Westens Aserbaidschan erneut den Weg der Gewalt sucht, um seine Maximalforderungen durchzusetzen. Eine aserbaidschanische Offensive auf völkerrechtlich armenisches Gebiet und eine gewaltsame Landnahme im Süden Armeniens sind nach der militärischen Eskalation in Bergkarabach wahrscheinlicher geworden. Appelle reichen – das haben die Ereignisse der letzten Monate gezeigt – nicht mehr aus. Die EU muss in diesem Fall genauso mit harten Sanktionen auf eine Aggression reagieren, wie sie esnach Russlands vollumfänglicher Invasion der Ukraine getan hat. Deutschland und Europa müssen sich jetzt dringend mehr engagieren, um eine weitere Destabilisierung Armeniens zu vermeiden, das brutale Vorgehen Aserbaidschans einzuhegen und einen Flächenbrand in der Region zu verhindern. Die junge armenische Demokratie benötigt Unterstützung auf dem Weg hin zu einer europäischen Zukunft, auch wenn dieser Weg aufgrund der Abhängigkeiten von Russland steinig sein wird.
 

Deutschland und Frankreich sollten eine gemeinsame Führungsrolle innerhalb der Europäischen Union für Armenien und die Bemühungen um einen Frieden mit Aserbaidschan übernehmen. Sie sollten jetzt klare politische Zeichen wie die Visaliberalisierung und eine Teilhabe Armeniens an der Europäischen Friedensfazilität setzen. Zudem muss die Europäische Beobachtermission in Armenien personell aufgestockt und in ihrem Mandat erweitert werden. Auf Aserbaidschan muss eingewirkt werden, um die Präsenz der Mission auch auf der aserbaidschanischen Seite der Grenze und in Bergkarabach zu ermöglichen. Ein solches Zugeständnis wäre ein klares Zeichen Aserbaidschans zum Willen zum Frieden und zur weiteren Zusammenarbeit mit der EU. Gleichzeitig sollten Deutschland und Frankreich an Sanktionsplänen arbeiten für den Fall, dass Aserbaidschan Armenien attackiert.

Die Integration von mehr als 100 000 Menschen aus Nagornyj Karabach wird eine Jahrhundertaufgabe für Armenien. Deutschland und die EU haben bereits Zusagen gemacht, sollten diese jedoch ausweiten und sich auf langfristige humanitäre Hilfe einstellen, etwa bei der Errichtung von Wohnquartieren, der psychosozialen Unterstützung und der Gewährung einer wirtschaftlichen Perspektive für die Vertriebenen, etwa durch Klein- kredite für Landwirtschaft und Handwerk.
 

Deutschland sollte seine politische und diplomatische Präsenz in Armenien deutlich ausbauen. Dabei geht es vor allem um Sichtbarkeit im Süden Armeniens. Vorbild kann hierbei Frankreich sein, das in der Provinz Sjunik ein Generalkonsulat eröffnet. Deutschland und Frankreich würden dadurch einen wichtigen Gegenpol zur Präsenz Russlands und des Irans in der Region bilden. Zudem ist es angesichts der aktuellen Sicherheitslage notwendig, einen dauerhaft präsenten deutschen Militärattaché nach Eriwan zu entsenden. Das Personal der deutschen Visastelle in Eriwan sollte ebenfalls aufgestockt werden: Monatelange Wartezeiten für ein deutsches Visum sind ein nicht hinnehmbarer Zustand, der besonders für junge, hervorragend ausgebildete Menschen aus Armenien frustrierend ist.

Der Türkei kommt als enger Partner Aserbaidschans eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Krise zu. Der begonnene Normalisierungsprozess zwischen Armenien und der Türkei muss von Europa sehr viel entschiedener unterstützt werden. Die Türkei würde von einer stabilen Lage und der Öffnung der armenischen Grenzen enorm profitieren. Die EU muss Ankara klarmachen, dass eine weitere Eskalation der Gewalt zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht im türkischen Interesse ist. Auch dabei kommt Deutschland eine wichtige Rolle zu.
Für mehr als 30 Jahre war der Erhalt von Nagornyj Karabach die verbindende politische Vision Armeniens. Mit dem Verlust von Nagornyj Kara- bach, der Abwendung von Russland und der Gefahr eines Krieges mit Aserbaidschan fehlt der armenischen Demokratie eine langfristige Vision. Junge Menschen dort erkennen ihre Zukunft längst als Teil Europas. Des- halb ist es wichtig, auch Armenien eine europäische Perspektive zu geben. Hierfür gilt es, heute die Grundlagen zu bauen.

Autoren:

Marcel Röthig ist Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Georgien, Armenien und Aserbaidschan
Stephan Malerius ist Leiter Regionalprogramm Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung
Sonja Schiffers ist Leiterin des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich- Böll-Stiftung
Katrin Bannach ist Projektleiterin Südkaukasus der Friedrich-Naumann- Stiftung für die Freiheit

Der Artikel erschien erstmalig am 9. Oktober 2023 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung