Bundesverfassungsgericht
Karlsruhe ist der Elefant im demokratischen Raum

Heute feiert das Bundesverfassungsgericht seinen 70. Geburtstag. Das sollte zum Anlass genommen werden, Karlsruhe wieder mehr als Elefant im Raum zu sehen, durch den Grundrechte schon innerhalb der Gesetzgebung mehr Beachtung finden.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Heute feiert das Bundesverfassungsgericht seinen 70. Geburtstag. Es wird häufig als Bürgergericht bezeichnet. Diese Auszeichnung gründet sich zum einen auf die Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger sich mit einer Verfassungsbeschwerde direkt an das Gericht zu wenden. Seit seiner Gründung 1951 gab es fast 249.000 Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, mehr als 96 Prozent davon waren Verfassungsbeschwerden. Gerade im Pandemie-Jahr 2020 wurde von der Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, sehr reger Gebrauch gemacht. Fast 900 Verfahren mit Bezug zur Corona-Pandemie gingen bei Gericht ein. Zum anderen ließe sich die Bezeichnung als Bürgergericht aber auch darauf stützen, dass das Bundesverfassungsgericht einen besonders guten Ruf bei den Bürgerinnen und Bürgern genießt. Regelmäßig wird dem Gericht durch Umfragen der höchste Vertrauenswert unter allen Verfassungsorganen bescheinigt.

Das liegt sicher auch daran, dass sich das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidungen in den nun 70 Jahren seines Bestehens immer wieder gegen rückständige und übergriffige Gesetzgebung gestellt hat und der Politik kontinuierlich auf die Finger schaut. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht immer angenehm, es passt sich nicht der herrschenden Meinung an. Und das ist auch nicht seine Aufgabe. Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts war schon von Beginn an, den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Funktion als Abwehrrechte gegen den Staat aber auch in ihrer Funktion zum Schutz von Minderheitenrechten zur Geltung zu verhelfen. Auch demokratische Teilhaberechte in Form von Kritik an der Verfassungsgemäßheit von Gesetzesvorhaben, die von parlamentarischen Minderheiten vorgetragen werden, schützt das Bundesverfassungsgericht. Diese Funktion kommt vor allem dadurch zum Ausdruck, dass es keine Mehrheit der im Parlament vertretenen Parteien braucht, um ein Gesetz durch Karlsruhe im Rahmen einer Normenkontrolle überprüfen zu lassen.

Live-Interview mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in Radio Bremen Zwei

Mit freundlicher Genehmigung von Radio Bremen, Prod. 2021.

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So erklären sich auch einige der bahnbrechendsten Urteile und grundrechtlichen Paukenschläge aus Karlsruhe, vor allem im Bereich der Sicherheitsgesetzgebung. Vom großen Lauschangriff, dem Abschuss entführter Flugzeuge, der Rasterfahndung, der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, dem Staatstrojaner bis hin zu den Überwachungsaktivitäten der Nachrichtendienste im Ausland – all diese sicherheitspolitischen Maßnahmen hat das Bundesverfassungsgericht in ihrer gesetzlich beschlossenen Form für verfassungswidrig erklärt. Aber Karlsruhe hat nicht nur gesagt, was nicht geht. Es hat auch neue Schutzgüter und neue Grundrechte herausgearbeitet. Aufbauend auf dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hat es im Volkszählungsurteil das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz-Grundrecht) geschaffen. Und im Urteil zur gesetzlichen Grundlage für Online-Durchsuchungen des Landesverfassungsschutzes NRW hat es dann daraus das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (Computer-Grundrecht) weiterentwickelt. Nicht nur unsere persönlichen Daten, auch unsere privatesten Gedanken, die wir auf unseren Mobilgeräten festhalten, sind vor der Ausforschung durch den Staat geschützt.

Der ehemalige Verfassungsrichter und anerkannte Staatsrechtslehrer Prof. Dr. Grimm erklärt in einem kürzlich erschienenen Buch das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts von der Verfassung, welches es bei der Auslegung von Grundrechten anwendet. Die Verfassung ist für das Gericht kein Dokument, an dessen Buchstaben und Paragraphen man sich sklavisch klammern sollte, es ist im Gegenteil ein lebendes Dokument („living document“). Deshalb unterliegt die Auslegung und Anwendung der Grundrechte genauso einem Wandel wie auch die Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger einem ständigen Wandel unterliegt. Das führte bereits dazu, dass das BVerfG die oben genannten Grundrechte quasi neu „erfunden“ hat. In Wirklichkeit hat es diese aber gar nicht erfunden, denn sie waren in der Verfassung bereits angelegt.

Eine Institution mit liberalen Wurzeln

Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht feiert heute sein 70-jähriges Jubiläum. Als oberstes Verfassungsorgan der Bundesrepublik verwirklicht es einige tief verankerte liberale Grundsätze. Die rechtliche Kontrolle von Regierung und Verwaltung und die Entscheidung von Streit zwischen Verfassungsorganen lassen sich in der deutschen Geschichte bis 1495 zurück verfolgen.

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Zum heutigen 70. Geburtstag sollten aber auch einige sehr grundlegende Verfassungsinnovationen nicht unerwähnt bleiben, die im medialen Blitzlicht häufig keine Erwähnung finden. Zu diesen Innovationen gehören die Grundlagen, auf denen wir heute unsere Debatten zu Grundrechten aufbauen. In einer seiner sehr frühen Urteile hat das Gericht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entwickelt, der heute bei jeder Grundrechtsprüfung angewendet wird. Das Gericht hat auch die Auffangfunktion der allgemeinen Handlungsfreiheit herausgearbeitet, wodurch neben dem Schutz konkreter Grundrechte auch jegliche denkbare Handlung geschützt wird, solange sie nicht verboten ist. Deshalb ist es nicht übertrieben zu formulieren, dass es durch die allgemeine Handlungsfreiheit auch ein Grundrecht auf Party gibt. Das Gericht hat außerdem schon sehr früh die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte auch in privaten Rechtsverhältnissen anerkannt. Das bedeutet, dass nicht nur der Staat, sondern auch private, sehr mächtige Akteure in ihrem Handeln direkt an Grundrechte gebunden sein können. Über die Zeit hat das Bundesverfassungsgericht ein Verständnis von Grundrechten entwickelt, das weit über eine reine Abwehrfunktion gegen den Staat hinausgeht. Vielmehr ist der Staat verpflichtet zu garantieren, dass Grundrechte auch so umfangreich wie möglich ausgeübt werden können.

All diese grundlegenden Innovationen haben auch in der Corona-Pandemie eine tragende Rolle gespielt. Jede einzelne Corona-Maßnahme muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, also das legitime Ziel des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung verfolgen und hierzu das zugleich geeignetste und mildeste Mittel darstellen. Auch einer Abwägung mit möglichen Zielkonflikten, wie etwa der gleichzeitigen Gewährung der Handlungsfreiheit, Berufsfreiheit, Religionsfreiheit, Demonstrationsfreiheit etc., müssen die Maßnahmen standhalten, um nach dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit angemessen zu sein.

Ein häufig erhobener Vorwurf gegenüber dem Gericht aus Karlsruhe ist, dass es zu politisch sei bzw. sich zu sehr in politische Entscheidungen einmische. Dieser Vorwurf ist noch älter als das Verfassungsgericht selbst. Der Vorwurf ist genauso verständlich wie leicht zu durchschauen. Denn wenn ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird, ist das eindeutig von politischer Relevanz. Nicht nur, weil sich hieran meist die Notwendigkeit der gesetzlichen Nachbesserung anschließt. Sondern auch, weil nicht alle Sprüche aus Karlsruhe der Politik immer gefallen. Das Bundesverfassungsgericht ist natürlich nicht unpolitisch, so war seine Stellung auch nie angelegt. Als Verfassungsorgan, welches neben den anderen Organen der Legislative, Exekutive und Judikative existiert, wurde das Bundesverfassungsgericht bewusst als Teil unseres politischen Systems ausgestaltet und bewegt sich als solches ständig im Spannungsfeld zwischen seiner Stellung als Hüter der Grundrechte und als Kontrollinstanz für insbesondere die Legislative.

70 Jahre Bundesverfassungsgericht: Hüterin der Grundrechte oder politischer Bremsklotz?

Auf der Richterbank im Sitzungssaal im Bundesverfassungsgericht liegen Barette der Bundesverfassungsrichter des ersten Senats. Dabei ist eine Miniaturausgabe des Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu sehen. Im September 2021 feiert das Bundesverfassungsgericht seinen 70. Geburtstag.

Zum 70-jährigen Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts haben Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und der Bundesverfassungsrichter Professor Dr. Andreas Paulus einen Blick auf seine innovative Schöpfungskraft geworfen: Wie hat es die Auslegung der Grundrechte im Wandel der Zeit weiterentwickelt? War es eher Hüterin der Grundrechte oder politischer Bremsklotz?

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Besonders deutlich artikuliert wurde die Kritik an einem zu politischen Verhalten aus Karlsruhe diesen Sommer als das Gericht das Klimaschutzgesetz für teilweise verfassungswidrig erklärte. Dabei ist gerade der Klimabeschluss eigentlich keine politische Einmischung, sondern lediglich ein Spiegel, den Karlsruhe der Politik vorgehalten hat. Denn mit der Aufnahme einer Staatszielbestimmung ins Grundgesetz, die unsere natürlichen Lebensgrundlagen auch für künftige Generationen schützen soll, wollte man sich zum einen zwar als visionär rühmen, zum anderen aber keine ausdrückliche Handlungsverpflichtung eingehen. Die Aufnahme des Staatsziels war eher als politische Absichtserklärung gedacht. Aber Staatszielbestimmungen haben natürlich konkrete Auswirkungen. Mehr hat das Bundesverfassungsgericht nicht klargestellt. Die neue Qualität dieser Handlungspflichten aus dem Staatsziel, den Klimaschutz auch über das Jahr 2030 hinauszudenken, ist durch die konkrete Formulierung des Staatsziels bedingt - es erstreckt sich ausdrücklich auch auf künftige Generationen. Eine generelle Verpflichtung zu generationengerechtem Handeln, auch für andere Politikbereiche, kann aus dem Urteil so nicht hergeleitet werden.

Häufig braucht es aber nicht einmal eine Entscheidung des Gerichts, sondern Karlsruhe wirft seine Schatten bereits durch die Möglichkeit, dass ein Vorhaben vom Bundesverfassungsbericht überprüft werden kann, weit voraus. Karlsruhe ist damit der Elefant im demokratischen Raum, wenn es um grundrechtsrelevante Gesetzgebung geht. Die Drohung, Verfassungsbeschwerde einzulegen, wenn gewisse Aspekte eines Gesetzentwurfs nicht geändert oder allzu übergriffige Vorstellungen nicht entschärft werden, hat allerdings in den letzten Jahren etwas an Kraft verloren. Unbeirrt hat die große Koalition insbesondere bei Sicherheitsgesetzen häufig gerade so an der Klippe der Verfassungswidrigkeit balanciert. Die Einstellung, erstmal so weitgehende Befugnisse wie möglich zu schaffen, die Karlsruhe dann schon wieder einfangen wird, wird dabei gerade von jenen an den Tag gelegt, die das Verfassungsgericht als zu politisch beschreiben. In Zukunft werden sich insbesondere aus dem Verhältnis von Bundesverfassungsgericht, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte spannende Fragen zur Wirkungskraft unsere Grundrechte ergeben, die immer mehr auch durch das Europarecht geprägt werden. Der 70. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts sollte aber zunächst zum Anlass genommen werden, Karlsruhe wieder mehr als Elefant im Raum zu sehen, durch den Grundrechte schon innerhalb der Gesetzgebung mehr Beachtung finden.