Tag des Grundgesetzes
Grundrechte sind auch in der Pandemie Normalzustand

Das Grundgesetz kennt keinen Notstand für Grundrechte
Sabine Leutheusser
© Tobias Koch

Das Grundgesetz kennt keinen Notstand für Grundrechte. Deshalb bleibt es auch in der größten Krise Normalität, Grundrechte zu schützen und zu gewährleisten sowie widerstreitende Grund- und Freiheitsrechte angemessen abzuwägen und in Einklang zu bringen. Das Grundgesetz enthält zu Recht keine ausdrücklichen Regelungen für den Katastrophen- oder Krisenfall (also für einen inneren Notstand, jenseits von Krieg und außenpolitischen Spannungsfällen), in dem die Grundrechte temporär zurücktreten oder gar ausgesetzt werden können. Auch in einer pandemischen oder anders gearteten Notlage muss es gelingen, eine angemessene Balance zwischen den widerstreitenden Grundrechten wie Schutz des Lebens und der Gesundheit einerseits und beispielsweise dem Recht auf Berufsausübung sowie der Religions- und Versammlungsfreiheit andererseits herzustellen.  
Im Zentrum dieses Ausgleichs steht das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Getroffene Maßnahmen müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein, um ein bestimmtes legitimes Ziel zu erreichen. Um bestimmte legitime Ziele, wie etwa den Gesundheitsschutz, zu erreichen, wird dem Gesetzgeber ein gewisser Einschätzungsspielraum dahingehend zugestanden, dass die von ihm gewählte Maßnahme geeignet und erforderlich ist. Der Einschätzungsspielraum ist dann besonders groß, wenn es ein überragend wichtiges Schutzziel gibt, für welches Maßnahmen kurzfristig auf einer ungewissen Entscheidungsgrundlage getroffen werden müssen. Der Zeitpunkt der Krise und der zu diesem Zeitpunkt existierende Wissensstand und seine Umsetzung sind wichtige Faktoren für die Verhältnismäßigkeit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen. Letztlich verlangt dies ein ständiges Nachjustieren und ein ständig neues Denken.
Im Fokus der Pandemiebekämpfung mit dem Ziel, die Ausbreitung des Virus und das allgemeine Infektionsgeschehen zu beherrschen, steht das Recht auf Leben und Gesundheit (körperliche Unversehrtheit) nach Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Leben und Gesundheit sind ohne Frage besonders wichtige Schutzgüter, und trotzdem müssen sich auch Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit einer Abwägung mit anderen betroffen Grundrechten stellen. Unsere Verfassung hat aus gutem Grund allein die Garantie der Menschenwürde nach Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz als Obersatz vor die Grundrechte gestellt. Initiativen wie „Zero Covid“, die den Gesundheitsschutz zum „Superschutzgut“ erheben, das alle anderen Schutzgüter (zumindest zeitweise) verdrängt, sind verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung sind nämlich auch dann nicht mehr verhältnismäßig, wenn andere betroffene Grundrechte nicht angemessen berücksichtigt werden. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn eine Maßnahme unter Berücksichtigung anderer zur Verfügung stehender Maßnahmen, die weniger tief in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen, nicht geeignet ist die Eindämmung von Infektionszahlen zu erreichen. Es müssen immer erst alle anderen möglichen und zumutbaren Maßnahmen erschöpft werden, bevor beispielsweise eine so weitgehende Maßnahme wie eine allgemeine Ausgangssperre verhängt wird. Trotz wissenschaftlicher Gutachten zur sehr geringen Ansteckungsgefahr über Aerosole im Freien und der Unwirksamkeit von Ausgangssperren, hat der Deutsche Bundestag am 21. April 2021 weitgehende und automatisch eintretende Ausgangssperren beschlossen, die sich verfassungsrechtlich kaum rechtfertigen lassen.