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Krieg in Europa
Bulgarien zwischen Korruptionsbekämpfung und Unterstützung für die Ukraine

Kiril Petkov

Der bulgarische Premierminister Kiril Petkov bei einer  Pressekonferenz während eines Treffens der südosteuropäischen NATO-Staats- und Regierungschefs in Sofia am 28. März 2022

© picture alliance / AA | Borislav Troshev

Prioritäten - zwischen Absichten und Wirklichkeit

Die aktuelle bulgarische Regierung von Premierminister Kiril Petkov kam im Dezember 2021 ins Amt, um die in den vergangenen 12 Jahren unter Führung der konservativen GERB-Partei aufgebauten Korruptionssysteme auszurotten und die Entwicklung Bulgariens durch den Einsatz von Innovationen in allen Lebensbereichen zu beschleunigen.

Die Erkenntnis, dass Korruption in Bulgarien tief mit russischen Einfluss und den Netzwerken russischer und serbischer Dienste zu tun hat, an denen die ehemalige Staatssicherheit beteiligt ist, führte dazu, dass der Kampf gegen Korruption darauf abzielen sollte, den russischen Einfluss und das Netzwerk ehemaliger Geheimdienste einzudämmen, von denen vorhergehende bulgarische Regierungen und der Nichtregierungsbereich sowie der akademische Bereich und ein Großteil der Wirtschaft durchsetzt sind.

Russlands Krieg in der Ukraine wird die Prioritäten der bulgarischen Regierung in den kommenden Tagen und Wochen definitiv neu ordnen, wenn auch mit einer Verzögerung im Vergleich zu anderen NATO- und EU-Staaten, die von den ersten Tagen des heimtückischen Angriffs und noch vor Beginn der Aggression die Auswirkungen dieses unvermeidlichen und brutalen Krieges in ihren Plänen berücksichtigt haben.

Wie Verteidigung zu einer Priorität wurde

Ohne eine signifikante Verbesserung des Zustands der inneren Sicherheit mit den Schwerpunkten Verteidigung und Geheimdienste wird Bulgarien schwere Verluste durch den Krieg erleiden und die Bemühungen um eine Justizreform und Innovationen einschließlich wichtiger Prioritäten wie Digitalisierung werden darunter leiden.

Ein erschwerender Faktor in Bulgarien ist die Beteiligung der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) an der Regierungskoalition, die mit ihrer Unterstützung der Kremlpolitik der letzten 30 Jahre (z. B. die Position der Partei im Kosovo-Konflikt 1999 und die Spannungen 2014 während der russischen Besetzung der Krim) heute sowohl in der Regierung als auch im Parlament für Ärger wegen der Verabschiedung von EU-Sanktionen gegen Russland und der Bereitstellung militärisch-technischer Unterstützung für die Ukraine sorgt. Die BSP widersetzt sich entschieden einer klaren bulgarischen Position gegenüber Russland unter dem Vorwand, eine „Einmischung in einen Konflikt“ zu vermeiden, und setzt damit die Stabilität der Regierung aufs Spiel.

Die klare Führung, die der Ministerpräsident mit der Entlassung des Verteidigungsministers deutlich vor Ablauf der ersten 100 Regierungstage zu Beginn des Konflikts in der Ukraine gezeigt hat, signalisierte, dass Putins "Fürsprecher" in der neuen Regierung nicht geduldet werden. Gleichzeitig wird erwartet, dass der Premierminister seinen Einfluss mit der Unterstützung des Parlaments durch einen starken Sicherheitsrat und der Schaffung der Position eines Direktors des nationalen Geheimdienstes weiter stärkt. Die Entwicklung des dringend benötigten umfassenden Programms für die Umgestaltung der Streitkräfte und den Einsatz multinationaler Einheiten unter der Schirmherrschaft der NATO, die Aufrüstung und Freigabe sowjetischer Ausrüstung, die wirksame Vorbereitung auf die Interoperabilität usw. wird auch die Rolle des Premierministers stärken und seine Position festigen, die jetzt oft vom Staatspräsidenten als Oberbefehlshaber der Armee angefochten wird.

Die Militärhilfe für die Ukraine als wichtigste Bewährungsprobe für die Koalition, das Parlament und den Präsidenten

Umfassende Hilfe für die Ukraine einschließlich der Bereitstellung sowjetischer Ausrüstung vor Erschöpfung ihrer Ressourcen, steht heute buchstäblich auf der Tagesordnung der Gesellschaft und des Parlaments. Nach einer Reihe von „Kreml-Botschaften“ auf höchster Ebene, wie etwa: „Die Bereitstellung von militärischer Ausrüstung verwickelt uns in den Krieg“; "Wir haben keine überschüssigen Waffen und Munition"; "Wir brauchen die Ausrüstung für unsere Verteidigung"; „Der Zustand der Ausrüstung und Munition ist nicht gutgenug, um in den Krieg geschickt zu werden“… und andere ist klar geworden, dass die Erklärung von sechsehemaligen Verteidigungsministern, die Anfang April Militärhilfe für die Ukraine forderten, zusammen mit Aufrufen von Hunderten von Bürgern zu formellen Konsultationen im Parlament geführt haben – und auch zu zwei Initiativen, die sowohl von der Opposition als auch von einer regierenden politischen Formation kamen. Die unvermeidliche Abstimmung im Plenum in den kommenden Tagen wird zeigen, „Wer, wer ist“ in der bulgarischen Politik.

So wie die Militärhilfe für die Ukraine Bulgarien nicht in den Krieg hineinziehen wird, wird die Abstimmung im Parlament nicht zum Sturz der Regierung führen, aber weder Bulgarien noch die Regierung werden nach dieser Entscheidung sowie nach der erwarteten Anhörung von Präsident Selenskyj im bulgarischen Parlament dieselben sein. Im Gegenteil – dies wird ein Akt der endgültigen Emanzipation des Premierministers Petkov von Staatspräsidenten Radev sein, der der „Designer“ von zwei Übergangsregierungen im Jahr 2021 war, aus denen die „mandattragende“ Formation „Wir setzen den Wandel fort" aus der jetzigen Regierung hervorgegangen ist. Auch die BSP wird die Möglichkeit haben, ihre Positionen anzupassen und sich von der extrem populistischen und offen Kreml-freundlichen Partei im bulgarischen Parlament, Vazrazhdane, zu distanzieren und so an der Macht bleiben. Die erwartete Unterstützung der Entscheidung über die Militärhilfe für die Ukraine durch andere Oppositionskräfte wird ernsthafte Fragen zum Euro-Atlantischen Partnerschaft in Bulgarien und in der Regierungskoalition mit langfristigen Folgen aufwerfen.

Kann Bulgarien die EU im Bereich Verteidigung und Sicherheit beeinflussen – und wenn ja, wie?

Im Zusammenhang mit der Modernisierung der NATO sollte die EU ein echtes Programm für Wiederaufrüstung und industrielle Zusammenarbeit für die Entwicklung der Verteidigungsindustrie in Osteuropa mit erhöhten und viel besser gesteuerten Verteidigungs- und Sicherheitsressourcen aufstellen. Gleichzeitig sollte ein Modell der EU-Entwicklung mit Verständnis für die langfristige Isolation Russlands und ein beschleunigter Wiederaufbau der Ukraine erreicht werden. Auf diese Weise könnten alle vergeblichen Versuche der Vergangenheit, die EU als Faktor in der internationalen Politik zu positionieren, ausgeglichen werden, und unsere Union sollte koordiniert mit den Vereinigten Staaten durch die NATO und andere strategische Partner in der G7 eine autonome und starke Politik in Bezug auf Russland und China, Osteuropa und Afrika verfolgen.

Es ist absolut klar, dass diese Politik nicht ohne ernsthafte Dimensionen in Verteidigung, Zusammenarbeit und Geheimdiensten sein kann, um eine echte Energieunabhängigkeit von Russland und technologische Unabhängigkeit von China zu erreichen. Dies ist ein historischer Moment für Deutschland – ob es der Motor eines Wandels für die EU sein wird oder versuchen wird, ein „Gleichgewicht“ mit Russland zu wahren, um nationale Wirtschaftsinteressen zu verteidigen.

Wie wird Bulgarien an der Gestaltung einer solchen EU-Politik teilhaben? Ergebenheit gegenüber Russland und Ausnahmen für Bulgarien bei den Sanktionen gegen den Kreml führen definitiv in die Sackgasse. Demgegenüber wird eine klare und aktive Position zum technologischen Schutz vor China und die Teilnahme an der militärischen Unterstützung für die Ukraine zur Vertreibung des Aggressors endlich Bulgariens Weg zu beschleunigtem Wiederaufbau und EU-Integration ebnen.

Velizar Shalamanov, Verteidigungsminister Bulgariens 2014, Mitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit-Partnerpartei „Da, Bulgaria“