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Stürzt der Libanon erneut in ein politisches Vakuum?

Unser Büroleiter in Beirut zum Rücktritt von Saad Hariri
Libanon

Dem Libanon drohen Unruhe, Chaos, politisches Vakuum und die erhöhte Gefahr von gewaltsamen Auseinandersetzungen.

© iStock/ MarkRubens

Am vergangenen Samstag kamen die Libanesen aus dem Staunen nicht mehr heraus und die Weltgemeinschaft wurde Zeuge von Ereignissen, die noch lange nachwirken werden. Zunächst floh der amtierende libanesische Regierungschef - aus Angst um sein Leben - ins Ausland, nach Saudi-Arabien. Situationen wie diese hat es in der politischen Weltgeschichte immer wieder gegeben. Dass sich dieser Regierungschef aber innerhalb von Stunden von seinem Amt als Ministerpräsident trennt und diesen Entschluss nur in ausländischen Medien verbreitet, hat es noch nicht gegeben. Der Ablauf dieser Vorgänge würde bereits in gefestigten Demokratien für einen handfesten Ausnahmezustand sorgen. Aber welche Auswirkungen müssen sich erst für den Libanon ergeben, ein innenpolitisch chronisch labiles Land, das von Krisenherden umgeben ist und ohnehin am Rand des wirtschaftlichen Kollapses steht? Was ist passiert, und wie lassen sich die Ereignisse einordnen?

Freiheit.org hat zur aktuellen Lage mit Dirk Kunze, Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Beirut, gesprochen.

Was ist im Libanon passiert, und welche unterschiedlichen Interpretationen lassen die derzeit verfügbaren Informationen zu?

Ministerpräsident Saad Hariri ist nach nicht einmal elf Monaten im Amt für alle überraschend zurückgetreten. Die Medien haben die Hergänge der letzten Tage recht gut und facettenreich nachgezeichnet. Dies muss ich an dieser Stelle somit nicht erneut wiederholen. Interessant ist jedoch ein Blick auf die Einzelheiten. Zunächst ist damit der Umstand gemeint, dass die im saudischen Fernsehen ausgestrahlte Rücktrittserklärung des libanesischen Regierungschefs quasi der Auftakt für Ereignisse war, an dessen Ende die Verhaftung von über 50 Ministern und hochrangigen Prinzen des saudischen Königshauses steht. Nicht wenige davon pflegten enge persönliche und wirtschaftliche Kontakte zu Hariri. Offiziell begründete Hariri seinen Rücktritt am Samstagmorgen mit der Angst um sein Leben: "Ich spüre, dass eine Verschwörung läuft, die auf mein Leben abzielt.“ Konkret zielte er auf die Hisbollah und den Iran, welche das "Schicksal der Staaten der Region bestimmen wollen". Dass es konkrete Anschlagspläne gegeben habe, wird von anderen offiziellen Stellen, wie der libanesischen Armee, jedoch nicht bestätigt. Schon deshalb mehrten sich in kürzester Zeit Gerüchte, dass Saad Hariri gegen seinen Willen in Riad festgehalten werde. Für diese Theorie spricht insbesondere das laute Schweigen Hariris. Nach der Verlesung seiner Rücktrittserklärung war der sonst medial sehr aktive Premierminister zunächst abgetaucht. Erst am Abend des darauffolgenden Tages twitterte er ein Bild mit dem saudischen Botschafter im Libanon und am Montag folgten ein paar Aufnahmen von einem Treffen mit dem saudischen König, auf denen enge Vertraute des Ministerpräsidenten eine beunruhigte Körperhaltung ausgemacht haben wollen. Ein weiteres Indiz für den sehr eingeschränkten Zugang zu Saad Hariri ist der Umstand, dass auch der libanesische Außenminister, Gebran Basil, derzeit keinen Kontakt zu ihm zu haben scheint. Diese Vermutung liegt nahe, da sich Basil für Gespräche zur Lage mit Nader (Cousin von Saad Hariri) und Bahia Hariri (Schwester seines Vaters Rafik Hariri) trifft. Beide ziehen in der politischen Landschaft des Libanon zwar schon seit langem die Fäden im Hintergrund, haben aber keine Regierungsämter inne. Fest steht, dass alle libanesischen Stellen von der Situation kalt überrascht wurden. Keine libanesische TV Station war in der Lage, eigenständig über die Verlesung des Rücktritts des Ministerpräsidenten informieren zu können. Alle (inklusive das Hariri-eigene Future TV) waren gezwungen, für ein nationales Ereignis dieser Größenordnung den Live Feed eines ausländischen Fernsehsenders zu übernehmen.

Dirk Kunze mit Saad Hariri

Dirk Kunze im Gespräch mit Saad Hariri.

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Wie gehen die Entwicklungen jetzt weiter?

Die Zukunft vorauszusagen, ist natürlich unmöglich. Insbesondere in einem Land wie dem Libanon und speziell in einer so unübersichtlichen Situation wie der jetzigen. Ganz offensichtlich besteht zunächst jedoch die Gefahr, dass der Libanon - nach nur knapp einem Jahr - erneut in ein politisches Vakuum stürzt. Die Rücktrittserklärung von Ministerpräsident Hariri wurde vom libanesischen Präsidenten Aoun nicht angenommen. Da dieser Vorgang in der Verfassung Interpretationen zulässt, bedeutet es zunächst, dass Saad Hariri sich seines Amtes entledigt hat, er aber gleichzeitig dieses Amt weiter ausüben soll. Zumindest die Suche nach einem Nachfolger kann somit nicht offiziell beginnen. Eine Rückkehr Hariris in den Libanon scheint ausgeschlossen, wenn der offiziellen Begründung, dass es konkrete Anschlagspläne gegeben habe, Glauben geschenkt werden soll. Als freier Mann könnte er wieder nach Paris zurückkehren, wo er - aus Sicherheitsgründen - bereits mit seiner Familie zwischen 2011 und 2014 lebte. Oder er könnte in Saudi Arabien bleiben und sich dort als neue sunnitische Führungsfigur des Widerstandes gegen die iranische Hegemonie etablieren. Seine Anhängerschaft scheint jedenfalls an diesem Narrativ Gefallen gefunden zu haben. Insbesondere im sunnitischen Lager wird Saad Hariri bereits die Opferrolle dessen zu teil, der sich und seine Ämter im Kampf gegen die iranische Vormachtstellung aufgibt. An dieser Stelle besteht letztendlich auch die unmittelbare Gefahr von gewaltsamen Zusammenstößen im Libanon: Sollte es zu öffentlichen Solidaritätsbekundungen für Saad Hariri kommen, ist die Schwelle zur Gewalt auf der Straße schnell erreicht bzw. überschritten. Allerdings hat daran derzeit keine der Konfliktparteien ein gesteigertes Interesse. Angekündigte Demonstrationen werden kurzfristig abgesagt und auch die Rede des Generalsekretärs der Hisbollah, Hassan Nasrallah, am vergangen Sonntag setzte Zeichen in diese Richtung. Allerdings ist es auch die politische Realität des Libanon, dass jede Art der Solidaritätsbekundung für Saad Hariri in kurzer Zeit von Hisbollah Unterstützern als Anti-Saudi-Arabien Demonstration vereinnahmt werden könnte. Wie so oft im Libanon bereitet man sich besser auf alle Eventualitäten vor.

Was bedeuten die Ereignisse der letzten Tage für die Entwicklungen in der Region?

Zunächst einmal mehr Unruhe, Chaos, politisches Vakuum und die erhöhte Gefahr von gewaltsamen Auseinandersetzungen in dieser ohnehin krisenreichen Region – kurzum: nichts Gutes. Ausgehend von der inzwischen sichtbaren Zentralisierung der Macht im saudischen Königshaus in den Händen des Kronprinzen Mohammed bin Salman, ist festzustellen, dass es insbesondere in den letzten Wochen sichtbare Anzeichen dafür gab, dass Saudi Arabien an einer Wiederbelebung des "14. März Lagers" im Libanon gearbeitet hat. Die Entscheidung Hariris von 2016, mit Michel Aoun einen Verbündeten der Hisbollah als Präsident des Libanon zu akzeptieren, stieß auf heftige Kritik in Saudi-Arabien. Der anschließende Versuch Hariris, den iranischen Einfluss im Libanon durch Einbindung der Hisbollah in den libanesischen Regierungsalltag zumindest zu kanalisieren, ist jedenfalls gescheitert. Die Hisbollah ist - auch dank ihres Engagements in Syrien - so stark wie nie. Sie bestimmt maßgeblich die Geschicke des Landes und stellte dies in letzter Zeit auch immer unverhohlener zur Schau. Grundsätzlich waren die Libanesen aber nicht unglücklich über die bisherige Allparteienregierung, die ja ein jahrelanges politisches Vakuum beendete, und sahen den Wahlen in sechs Monaten erwartungsvoll entgegen. Sie sind schlicht der ständigen Konflikte müde. Es ist jedoch anzunehmen, dass das saudische Königshaus eine klarere Positionierung der Libanesen gegen die Hisbollah und damit den iranischen Einfluss einfordern wird. Erst gestern machte der zuständige saudische Minister für die Golfstaaten klar, dass die Libanesen zu entscheiden hätten "…zwischen Frieden oder Hisbollah". Ausgerechnet die Israelis wissen die Saudis damit auf ihrer Seite. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu‏ merkte an, Hariris Worte seien ein „Weckruf“ an die internationale Gemeinschaft, endlich aktiv gegen die Aggression Irans vorzugehen. Netanyahu twitterte: “Wenn wir den Iran nicht stoppen, dann werden wir eine Situation haben, die noch gefährlicher ist als Nordkorea.“ Die Durchführung der für Mai 2018 angesetzten libanesischen Parlamentswahlen ist vor diesem Hintergrund ausgesprochen fraglich. Rein rechtlich besteht zwar kein Anlass, sie abzusagen, da alle legislativen Regelungen bereits auf den Weg gebracht wurden und nun nur noch ausgeführt werden müssen. Ein Interesse daran hat aber - aufgrund des neuen proportionalen Wahlsystems und des Zuschnitts der Wahlkreise - vorrangig derzeit nur eine Partei: die Hisbollah.

Dirk Kunze leitet Stiftungsbüro in Beirut.